Vorstellungen
Filmkritik
In China, erklärt Émilie, gäbe es ein Sprichwort, das lautet: „Erst vögeln, dann mal schauen!“ Émilie muss es wissen. Sie stammt aus Taiwan, hat in Paris ein Elite-Studium abgeschlossen und schlägt sich jetzt mit Gelegenheitsjobs durch. Ihre Wohnung im Pariser 13. Arrondissement gehört ihrer Großmutter, die allerdings wegen Demenz in einem Heim lebt. Das Geld, das sie durch Untervermietung einnimmt, ist Émilies Taschengeld. Oder eine Belohnung dafür, dass sie sich gelegentlich um die Großmutter kümmert. Oder zumindest kümmern sollte, wie sie es mit ihrer Familie vereinbart hat.
Gerade sucht Émilie eine neue Mitbewohnerin, weil ihr Job im Call Center gefährdet ist, da sie Unbehagen oder Ratschläge direkt an die Kunden weiterreicht. Dann steht Camille vor der Tür. Wider Erwarten und trotz des Vornamens ein gutaussehender Lehrer, Person of Color, sehr selbstbewusst und gewitzt. Die Arbeit in der Schule ist nur eine Zwischenstation auf dem Weg zur Promotion. Émilie erinnert sich an das chinesische Sprichwort und akzeptiert Camille als Untermieter. Beide beginnen sogleich eine leidenschaftliche Affäre, die auch schnell wieder endet, als Émilie mehr will. Camille aber hat sich da längst in eine Kollegin verliebt und mag außerdem keine Regeln. Émilie reagiert erstaunlich eifersüchtig. Die Wohngemeinschaft endet abrupt.
Das Internet hilft immer weiter
Nora ist für ein Jurastudium aus Bordeaux nach Paris gekommen. Mit ihren 33 Jahren ist sie eigentlich etwas zu alt für ein Studium, und für Paris etwas zu gutmütig-naiv. Beides bekommt sie von ihren Kommilitoninnen recht umstandslos vermittelt. Als sie dann verkleidet auf eine Spring-Break-Party geht, wird sie mit dem einschlägigen Camgirl Amber Sweet verwechselt. Die Konsequenzen dieser Verwechslung sind heftig. Nora wird so sehr gemobbt, bis sie das Studium abbricht. Dabei weiß sie lange nicht, wer diese Amber Sweet überhaupt ist; das Internet hilft dann auch hier weiter.
Jetzt braucht Nora einen neuen Job. Weil sie einige Jahre im Immobiliengeschäft erfolgreich tätig war, liegt ein Wiedereinstieg in die Branche nahe. Sie bewirbt sich bei einer kleinen Agentur, die von Camille geleitet wird, der offenbar Schuldienst und Kollegin und wissenschaftliche Karriere hinter sich gelassen hat, um für einen Freund diesen Job zu übernehmen. Die Agentur ist ziemlich heruntergewirtschaftet. Nora, die auf diesem Terrain sehr souverän ist, macht sich mit Elan an die Arbeit. Den Avancen des Charmeurs Camille begegnet sie lange reserviert.
Was sich in der Nacherzählung so ausnimmt, als handle es sich bei „Wo in Paris die Sonne aufgeht“ von Jacques Audiard um eine leicht modernisierte Variante eines Stationendramas a la Schnitzlers „Der Reigen“, überzeugt vor allem durch den Mut zu Leerstellen bei gleichzeitig immer wieder überraschender Dichte der Figurenzeichnung. John Lennon wird der Satz „Life is what happens to you while you are busy making other plans“ zugeschrieben, der die Offenheit des gewählten Erzählverfahrens ganz gut fasst, nur, dass hier nicht wirklich Pläne gemacht werden, sondern das Leben „einfach“ geschieht. Was natürlich eine clevere Konstruktion ist.
Und sei es per Knockout
Alle grob skizzierten Handlungsblöcke lassen sich problemlos auch ganz anders entfalten. Émilie, die ostentativ auf spontane Libertinage setzt und via Tinder den Markt sondiert, setzt, von Camille kurzerhand abserviert, auf „neue Regeln“ fürs gemeinsame Zusammenleben. Nora ist nicht nur nach Paris gezogen, um Jura zu studieren, sondern auch um eine schmerzhafte Familiengeschichte hinter sich zu lassen, die (auch) mit dem Immobiliengeschäft zu tun hat. Später im Film zeigt sie in einer befreienden Straßenszene, dass sie sich inzwischen zu wehren weiß. Und sei es per Knockout. Camille ist einerseits ein engagierter Lehrer, der kreative Unterrichtsentwürfe plant, aber zuhause zugleich auch ein arroganter Schnösel, der für die Performancekunst seiner jüngeren Schwester nur herablassende kulturtheoretische Floskeln übrighat. Wenig später ist aus dem Pädagogen ein recht uninspirierter Dilettant im Immobiliensektor geworden.
Alles hier ist fluid. Die einzelnen Kapitel des Films scheinen wie ein Mobile gehängt, scheinbar freischwebend, aber doch verbunden und vernetzt durch zahllose Details. So wie der hinreißende Pädagoge Camille unvermittelt in die Rolle des Maklers schlüpft, so erlebt die gemobbte Studentin Nora genau diesen Job als Befreiung. So wie sich Émilie plötzlich Regeln wünscht, missachtet sie die Absprache mit ihrer Familie und sucht sich stattdessen jemand, die an ihrer Stelle die demente Großmutter besucht.
Denkt man sich hier noch all die modernen Kommunikationsmittel, Social Media, Tinder und andere hinzu, so entwirft „Wo in Paris die Sonne aufgeht“ tatsächlich ein Sittengemälde über Identität in der modernen globalisierten Welt, in der es eine wesentliche Qualität ist, dass man sich permanent neu entwirft. Schneller Sex ist dabei noch das geringste Problem, zumal vor dem Hintergrund, dass es Schnitzlers „Der Reigen“ vorrangig um Verführung ging. Hier greift ein weiteres Mal das chinesische Sprichwort vom „Dann-mal-Schauen“. Mögen die Affären auch eine geringe Halbwertzeit haben, so verliert man sich in dem retro-chicen Wohnviertel „Les Olympiades“ aus den frühen 1970er-Jahren doch nie aus den Augen. Camilles Schwester ist in der Immobilienagentur ebenso anzutreffen wie Émilie, die einmal als Übersetzerin behilflich ist. Und Paris sieht hier nie aus wie Paris, jene – wie man so sagt – Stadt der Liebe.
Die neuen Medien und ihre vielen Wirkungen
Das alles ist mit einer stupenden Leichtigkeit in wunderschönem Schwarz-weiß erzählt, was vielleicht damit zusammenhängt, dass dem Film drei Kurzgeschichten des US-amerikanischen Comicautors Adrian Tomine zugrunde liegen. Am Drehbuch arbeiteten neben Jacques Audiard auch Céline Sciamma und Léa Mysius mit, also ein Powertrio der französischen Filmkunst. Diese Zusammenarbeit auf der Grundlage von Tomines Erzählungen liefert dem Film seine sensible Offenheit und Unberechenbarkeit, die Platz lässt für Unbestimmtheiten, aber auch für überraschende Volten.
„Wo in Paris die Sonne aufgeht“ beschreibt ein urbanes Milieu, in dem sich unter den Bedingungen der aktuellen Medienrealität Begegnungen junger Erwachsener ereignen, die von der Kamera beobachtet werden. Glücklicherweise nimmt der Film die Welt von Tinder, Internet-Pornografie und Chat-Rooms nicht konventionell kulturkritisch in den Blick, sondern registriert lieber deren Auswirkungen auf den Alltag. Nur einmal, als Émilie ihren Arbeitsplatz für schnellen Sex kurz verlässt, um dann tanzend (in Zeitlupe!) zurückzukehren, zwinkert Audiard dem Publikum zu. Anderes wird beiläufig erzählt: Dass Nora auf der Studierenden-Party mit Amber Sweet verwechselt wird, bedeutet eben auch, dass hinreichend Anwesende Amber Sweet „erkennen“. Dass man jederzeit und überall einen maßregelnden Anruf der Familie erwarten muss, führt auch dazu, dass man gelernt hat, Funklöcher zu simulieren.
Über die Screens hinaus
Dass ausgerechnet das Camgirl Amber Sweet diejenige Figur ist, die am verbindlichsten das Gespräch sucht, ist vielleicht die überraschendste Volte, die der Film schlägt. Sie hat sich ihren „Safe Place“ vor der Webcam unabhängig gestaltet und lässt sich mit Nora auf einen derart unverstellten und intensiven Erfahrungsaustausch ein, dass daraus eine Begegnung in der „realen“ Welt werden kann. Dieser Übersprung aus der Distanz der Bildschirme ist so märchenhaft, dass der Film selbst überrascht ins Farbige springt. Und so erstaunlich, dass diese Begegnung auch Konsequenzen für Camille und Émilie hat oder zumindest haben kann.
In Interviews hat Jacques Audiard daraufhin hingewiesen, dass er seinen Film durchaus als Inversion von Eric Rohmers „Meine Nacht bei Maud“ versteht. Diese „Umkehrung“ ist allerdings nicht etwa eine nerdige Kopfgeburt, sondern gewissermaßen eine Verbeugung vor den modernen Lebens- und Liebesverhältnissen, die das – pfiffig ausgedachte – chinesische Sprichwort auf den Punkt bringt. Wie schon der Hinweis auf die etwas in Vergessenheit geratenen Filme Rohmers nicht nur treffend, sondern zudem grundsympathisch ist.