Vorstellungen
Filmkritik
Wie ein gewaltiges Tier liegt die Fähre im Hafen von Caen, wenn sie nachts die Putzkolonne verschluckt. Mit eiligen Schritten marschieren die Frauen und Männer an Bord und tauschen ihre orangefarbenen Warnwesten gegen Kittel aus. Sie haben lediglich anderthalb Stunden, bevor das Schiff wieder ablegt. Bis dahin müssen sie 230 Kabinen saubermachen: Betten beziehen, Klos putzen, Boden wischen. Pro Zimmer vier Minuten. Marianne war gewarnt: „Du musst sehr schnell sein und du wirst kotzen, weil du es nicht schaffen kannst“, hatte ihr die Vorarbeiterin gesagt. Keine Probezeit. Niemals krank sein. Nicht aufmucken. Mindestlohn. Wer zu spät kommt, fliegt. Marianne hat trotzdem zugesagt.
Seit ihrer Scheidung lebt die Mittvierzigerin in der nordfranzösischen Hafenstadt und muss jeden Cent dreimal umdrehen. 20 Jahre lang hat sie ihren Mann umsorgt, seine Buchhaltung erledigt, hat gearbeitet, aber nie für Geld. Auf dem Arbeitsmarkt hat sie damit schlechte Karten. Den Mist wegmachen, den andere hinterlassen, das kann Marianne jedoch. Putzen sei „ihre Passion“. Gewissenhaft sei sie, vielleicht ein wenig zu perfektionistisch, erzählt sie in Bewerbungsgesprächen.
Wie man das „Biest“ zähmt
In einem Lehrgang lernt Marianne, wie man das „Biest zähmt“, die Bohnermaschine, die man mit aller Kraft zu Boden drücken muss. Und sie erfährt auch, dass die Klobrille mit dem rosa Tuch – „Nicht vergessen!“ – abgewischt wird. Ihren ersten Job ist sie wieder schnell los, doch wenn andere auf einen herabblicken und oft genug sogar herabwürdigen, muss man zusammenhalten, und so landet Marianne dank ihrer Kollegin Christèle auf der Kanalfähre.
Zuhause, nach der Schicht, schmerzen Rücken und Schultern; die Arme zittern. Doch dann beginnt Mariannes eigentliche Arbeit. Dann klappt sie ihren Laptop auf und fasst ihre Notizen zusammen, die sie verstohlen in ein Heftchen gekritzelt hat. Denn sie ist gar nicht die verlassene und mittellose Ehefrau, die sie vorgibt zu sein. Sondern sie ist Marianne Winckler, eine angesehene und erfolgreiche Schriftstellerin aus Paris, die in ihrem neuen Buch „die Unsichtbaren sichtbar“ machen will.
Allerdings ist der französische Regisseur Emmanuel Carrére kein Ken Loach und auch keiner der Dardenne-Brüder. Er erzählt nicht wie sie mit derselben Wut, Anklage und Inbrunst von Menschen, die hart schuften, aber dennoch nie genug Geld verdienen und am Rand der Gesellschaft festkleben. Gleichwohl sind es in „Wie das echte Leben“, den der deutsche Verleih als „Feel-Good-Drama“ anpreist, gerade die Arbeitsszenen, die einen mit ihrem genauen Hinschauen packen, wie auch die kurzen Einblicke in Mariannes neues Umfeld, das Carrére mit Sinn fürs Detail und großer Sympathie zeichnet. Unter den Arbeiterinnen herrscht eine ungeahnte Solidarität. Niemand schert sich darum, wo man herkommt, welche Hautfarbe oder Geschlecht man hat oder zu wem man betet. Ein kleines Paradies in einer Welt voller Dreck. Fast zu schön, um wahr zu sein.
Nur eine Frage der Zeit
Zunehmend rückt in „Wie das echte Leben“ jedoch der moralische Konflikt in den Mittelpunkt, in den Marianne unweigerlich gerät, weil sie nach der Methode Wallraff undercover agiert. Beutet sie die Menschen, die ihr vertrauen, nicht aus? Selbst dann, wenn sie sich eigentlich als deren Anwältin begreift? Marianne ist eine Spionin, und sie macht ihre Sache gut. Schnell wird sie aufgenommen, gilt als Gleiche unter Gleichen. Und immerzu verwertet sie das echte Leben der Frauen und Männer für ihr Buchprojekt, saugt jedes Wort, jede Begebenheit gierig auf und macht die toughe Christèle, die in einer kargen Hochhaussiedlung drei Kinder allein großzieht, ohne Skrupel zur Hauptfigur ihres Buches – und das, obwohl diese längst eine echte und verlässliche Freundin geworden ist. Es ist nur eine Frage der Zeit, wann Mariannes Doppelexistenz auffliegt.
„Wie im echten Leben“ basiert auf einem Erfahrungsbericht der französischen Journalistin Florence Aubenas, der 2010 in Frankreich erschienen und hierzulande unter dem Titel „Putze! Mein Leben im Dreck“ erschienen ist. Treibende Kraft hinter der Verfilmung war Juliette Binoche, die sich um die Rechte für die Adaption bemüht und die Rolle der Marianne übernommen hat. Dass sie eine Frau spielen kann, die man auf der Straße glatt übersehen würde, steht außer Frage, und vermutlich hat sie sich beim Dreh sogar zurückgenommen, denn sie ist sie einzige professionelle Schauspielerin im Film. Christèle, Marilou, Cedric und all die anderen werden vorn Laien verkörpert, die die Lebens- und Arbeitsbedingungen ihrer Figuren aus eigener Erfahrung kennen – und sie stehen Juliette Binoche in Nichts nach, spielen sie mitunter sogar an die Wand. Am Schluss jedoch geht jeder zurück in seine Welt. Im Film wie im echten Leben.