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Filmkritik
Familienfilm-Hunde, man kann nicht oft genug dagegen anheulen, werden meistens falsch nachsynchronisiert. Bei jeder unpassenden Gelegenheit müssen sie winseln oder jaulen, als hätte sie jemand eingesperrt. Womit aber immer nur gemeint sein soll: Er will uns etwas sagen! Dabei bestehen die Poesie und involvierende Kraft beim Anblick eines Hundes oder eines Films gerade auch in Momenten der Stummheit. Das Unausgesprochene und Unaussprechliche lädt den betrachtenden Menschen zu Projektionen ein, und erst diese gehen wahrhaftig zu Herzen.
Der Filmhund „Alaska“ in „Was man von hier aus sehen kann“ von Aron Lehmann ist ein sperriges, hellgraues Zotteltier, und es winselt nur diskret. Meistens steht, trottet oder liegt es wortlos herum oder ist auch mal verschwunden, wie Hunde das eben so tun. Es passieren ihm auch schlimme Dinge, die aber gar nicht wirklich passieren, denn es sind nur kurze Horrorvisionen der Hauptfigur Luise (Luna Wedler), die der Film uns ausmalt, damit wir es nicht tun müssen.
So vertraut-verschroben wie filigran
Nicht erst seit der Bestatter-Serie „Das letzte Wort“, zu der Lehmann drei der sechs Folgen beigetragen hat, fällt es leicht, seinem verschrobenen und dennoch filigranen Zugriff aufs realistische Erzählen zu vertrauen. Schon in seinem Debütfilm „Kohlhaas oder Die Verhältnismäßigkeit der Mittel“ kultivierte Aron Lehmann mit entspannt sorgfältiger Figurenarbeit und einem ironischen Erzählkonzept einen Humor, der entsteht, sobald jemand den Kontrast zwischen der Beschränktheit menschlichen Strebens und der Unermesslichkeit seines Vorstellungsvermögens liebevoll anerkennt. Dass Lehmann jetzt den Bestseller von Mariana Leky adaptiert, ein Buch, in das sich gefühlt bald jeder Zweite verknallt hat, klingt, als könne dabei nichts schiefgehen.
In „Was man von hier aus sehen kann“ geht nicht nur nichts schief, sondern alles auf. Vom zeitlich nicht genau festlegbaren ziegelrot-petrolfarbenen Farbkontrast von Kostüm und Ausstattung bis hin zur Musik von Boris Bojadzhiev, die keine Gefühlstapeten auswalzt, sondern in sparsam orchestrierten Walzer- und Vierviertelmelodien eher wie die Erinnerung an eine verklungene Symphonie wirkt, ringen beständig Harmonie und Fragment miteinander. Oder anders gesagt: die Dorfgemeinschaft und der Umstand, dass diese aus lauter einzelnen Schraten besteht.
Programmatisch für dieses Verhältnis steht auch das zentrale Tiersymbol, das Okapi. Optisch angesiedelt zwischen Giraffe, Zebra, Tapir und Maus, fügt sich in seiner Erscheinung das Unpassende zur schrägen Schönheit mit abfallender Rückenlinie. Dieses real existierende Säugetier wird zum Traum-Orakel: Jedes Mal, wenn Großmutter Selma (Corinna Harfouch) von einem Okapi träumt, stirbt binnen 24 Stunden jemand aus dem Dorf. Nach langer okapifreier Zeit geschieht es erneut, und das Dorf versinkt in Panik. Jeder will auf den letzten Drücker mit verheimlichten Wahrheiten herausrücken, in Briefform. Am Dorfbriefkasten herrscht großes Gedränge.
Eine Ausnahme unter Bestsellerverfilmungen
Bestsellerverfilmungen kranken oft daran, dass Drehbuch und Regie in kleingärtnerischer Akkuratesse am Roman entlangjäten, anstatt seinen Kern und seinen Tonfall ins Filmische zu übersetzen. „Was man von hier aus sehen kann“ ist eine erfreuliche Ausnahme. Lekys Panoptikum eines fiktiven Dorfs im Westerwald mit seiner umeinander besorgten Einwohnerschaft entfaltet auch als Kinoversion den Charme eines Arrangements seltsam vertrauter menschlicher Gewächse.
Dabei greift Drehbuchautor und Regisseur Lehmann beherzt und mit Feingefühl in die Romanstruktur ein, steigert in manchen Szenen den surrealen Witz und dimmt ihn bei Bedarf herunter. Vor allem arbeitet er an und mit den Figuren. Corinna Harfouch spielt Luises Großmutter mit nur leicht angewärmter Herbheit. Zusammen mit dem namenlosen, universell gebildeten „Optiker“ (Karl Markovics) dürfte dieses nüchtern einander zugetane Paar als das herzergreifendste seit Hannelore Elsner und Elmar Wepper in „Kirschblüten - Hanami“ in die Filmgeschichte eingehen. Was hätte das, in anderen Händen, für ein Bauerntheater werden können!
Die Tragikomik des Optikers
Der Roman erzählt in drei Zeitebenen die Geschichte von Luise, die als Kind ihren besten Freund Martin verliert und deren Großmutter Selma zu ihrer wichtigsten Bezugsperson wird, neben dem Optiker, der heimlich in Selma verliebt ist. Seit Jahren beginnt er Liebesbriefe an sie und schreibt sie nicht zu Ende, weil seine fiesen inneren Stimmen ihn daran hindern. Das restliche Dorf weiß natürlich längst von dieser Zuneigung, eben weil sie keine Worte braucht, weil gelebte Hingabe für alle sichtbar ist. Das ist die tiefe Tragikomik des gelehrten Optikers: selbstkritisch zu glauben, dass erst in der Verschriftlichung Beglaubigung liegt, während jede seiner Gesten verwirklicht, was andere nur bekennen.
Lehmann beschränkt sich auf zwei Zeitebenen und verwebt sie ineinander: Luises Kindheit (niedlich, aber ungezuckert lebensecht: Ava Petsch als Luise und Cosmo Taut als Martin), und jene Zeit, in der Luise als 22-jährige Buchhändlergehilfin bei ihrem schroffen Chef (Thorsten Merten) arbeitet.
Luna Wedler, die schon die Titelrolle in „Das schönste Mädchen der Welt“ spielte, verleiht der erwachsenen Luise eine nerdige Mischung aus Selbstbewusstsein, Melancholie und Verstocktheit. Sie kann niemandem mehr in die Augen blicken, seit in einem solchen Moment Martin aus dem Leben gerissen wurde. Als junge Erwachsene begegnet sie dem ständig hungrigen Buddhisten Frederik (Benjamin Radjaipour). Sie stellt ihn nicht etwa bloß ihren Eltern, sondern dem ganzen Dorf vor, das ihr bei aller Liebe ein wenig peinlich ist. Auch darum geht es nebenbei: um die Unwichtigkeit der Kleinfamilie, ums Dorf, das es sprichwörtlich braucht, um ein Kind zu erziehen.
Lob der Dezenz
Schon das Buch bietet durch seine Liebesgeschichten und die Bejahung des beschränkten Horizonts eine Steilvorlage, um einen Anti-Film zu all jenen (Arthouse-)Schmonzetten zu drehen, deren gesamter Plot nur dem Umstand zu verdanken ist, dass jemand aus oftmals mühsam herbeigedrechselten Gründen etwas verheimlicht. Das Pathos gipfelt dann meist darin, dass derjenige in die Welt hinaus aufbrechen und endlich seine Liebe gestehen muss. „Was man von hier aus sehen kann“ läuft hingegen auf ein Lob der Dezenz, der Beständigkeit und des Nichtausplauderns hinaus. Auf eine Feier derer, die – wie der Optiker – die Belastbarkeit einer Diele oder eines Satzes nicht auf Biegen und Brechen erproben, sondern sich zurückzuhalten verstehen. Die aber in den wirklich entscheidenden Momenten, wenn etwa der Tod ohne jede Zurückhaltung hereinbricht, ganz und gar da sind.
Kameramann Christian Rein bildet beides ab: Er beherrscht das komödiantische, ironische Zoomen auf bühnenhafte Szenerien ebenso wie die naturalistisch eingefangene Intimität von Berührungen, wobei das romantische Filmkuss-Repertoire der Paarfindungschoreografie als Fiktion, Traum oder Rückblende markiert bleibt. Real existierende, gegenwärtige Liebe erkennt man hier an der Kinderhand auf Greisinnenhaar, an Omastirn an Opaschulter, Mädchenhand auf Jungenhaar. Wenn das Kind Luise um seinen Freund trauert, ist es Selma, die Luise buchstäblich er- und tagelang mit sich herumträgt.
Angeschrammter Märchenton
Rein fotografiert solche zwischenmenschliche Nähe wie Szenen der Liebe, weil sie genau das sind. Diese Pendelbewegung von Zurückhaltung und Intensität unter Beibehaltung eines angeschrammten Märchentons wirkt wie ein Gegengift gegen das manchmal recht penetrante Ehrlichkeits- und Rücksichtslosigkeitsdiktat eines aalglatt vergammelten, sexy Kitchen-Sink-Realismus. Lekys Einfälle erwachen bis in die Nebenrollen zu angeschmoddertem Leben, etwa wenn Rosalie Thomass als „traurige Marlies“ den fleischgewordenen Lebensüberdruss gibt, der hier wie fast alles seine Daseinsberechtigung hat und nicht wegtherapiert wird.
So beweist Lehmann auf der Höhe seiner Kunst, wie ungeschönt und doch schwerelos er von Tod und Liebe zu erzählen weiß, wobei ihm Lekys Dialoge zwischen unsentimentaler Trauer und vergnügter Putzigkeit natürlich in die Hände spielen. Beide destillieren aus dem Alltäglichen und Kleinen das Welttheater vom Menschen, der sein Dorf genauso braucht wie das Dorf ihn.