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Filmkritik
Der deutsche Schauspieler, Regisseur und Schriftsteller Joachim Meyerhoff (Jahrgang 1967) hat sich mit seinem fünfteiligen Romanzyklus „Alle Toten fliegen hoch“ als sensibler Erzähler erwiesen, der die eigene Biografie dazu nutzte, dem Phänomen der Erinnerung nachzuspüren. Ist auf sie Verlass? Oder ist sie geschönt?
„Erfinden heißt Erinnern“, steht an einer Stelle, „Die Vergangenheit ist ein ungesicherter Ort“ an einer anderen. Erinnerung ist auch immer etwas, das der Überarbeitung bedarf. So sind die Ausschmückungen des Erzählers zu verstehen. Dabei geht der Autor nicht chronologisch vor. Der erste Band „Amerika“ handelte von Meyerhoffs Zeit als Austauschschüler in Wyoming. Das zweite Buch diente nun als Vorlage für diesen Film der Regisseurin Sonja Heiss und berichtet von Meyerhoffs behüteter Kindheit in Hesterberg in Schleswig. Sein Vater war dort Direktor der Kinder- und Jugendpsychiatrie.
Bis zur Weißglut
Für Joachim, der Josse genannt wird, gehören die Patienten quasi zu Familie. Unbefangen und ohne Scheu kann der kleine Junge mit ihnen reden. Sie sind sogar netter zu ihm als seine beiden älteren Brüder, die ihn mit ihren Sticheleien und Gemeinheiten zur Weißglut treiben. Seine Mutter (Laura Tonke) träumt derweil von Italien. Sie malt Aquarelle von umbrischen Landschaften und telefoniert gelegentlich auf italienisch mit einem Bekannten, der etwas mehr sein könnte als das.
Direktor Meyerhoff (Devid Striesow) hingegen ist ein wandelndes Lexikon, sanft, verständnisvoll und belesen. Allerdings mangelt es ihm an Lebenstüchtigkeit, wie sein missglückter Ausflug mit einer Jolle beweist. Meistens geht er seine eigenen Wege. Vielleicht hat er etwas mit der Sekretärin, vielleicht auch noch mit anderen Frauen. Später verliebt sich Josse – er ist mitten in der Pubertät – in die suizidgefährdete Patientin Marlene mit dem wundervollen Pagenschnitt und den schönen Augen. Eine schüchterne Annäherung, ein flüchtiger Kuss, doch dann holen ihre Eltern sie wieder ab. Später muss der Junge erfahren, dass Marlene sich das Leben genommen hat. Doch das ist nicht der einzige Schicksalsschlag in diesem Film.
Eine kindliche Weltsicht
Joachim Meyerhoff ist im Buch der Ich- Erzähler, der über seine Kindheit an einem ungewöhnlichen Ort in ausgeschmückten, sehr subjektiven Anekdoten berichtet. Sonja Heiss und ihr Co-Autor Lars Hubrich haben auf diesen Ich-Erzähler bewusst verzichtet und trotzdem geschickt seine kindliche Weltsicht beibehalten. Das funktioniert auch für jene, die die Buchvorlage nicht kennen. Das Autorenduo hat einprägsame Bilder gefunden, die man auch nach dem Kinobesuch lange nicht vergisst. Wunderschön ist zum Beispiel die Idee, dem sonnenbadenden Vater am Ostseestrand Wasser in den Bauchnabel zu gießen und mit der Verdunstung das Vergehen von Zeit zu veranschaulichen.
Im Buch wird Josse als Zappelphilipp beschrieben, der ständig, auch in der Schule, seinen Tagträumen nachhängt und so seine Fantasie beweist. Heiss vernachlässigt hingegen diesen Aspekt und schildert seine Tobsuchtsanfälle als so unkontrolliert, dass ihn die Mutter auf eine Waschmaschine setzt und den Schleudergang einschaltet. Nur durch das Rütteln kann der Junge beruhigt werden. Ein anderes Mal reitet Josse auf den Schultern des „Glöckners“, eines riesigen, furchteinflößenden Patienten, der gleichwohl sein bester Freund ist – auch das ein starkes Bild. Wie überhaupt die Ticks und Behinderungen der Psychiatriepatienten angenehm zurückgenommen sind, während sie im Buch ausführlich beschrieben werden.
Es geht ums ganze Leben
Und dann ist da noch der Ministerpräsident, der die Klinik besichtigt und am Ende seines Besuchs im Schlamm landet. Ein schönes Beispiel für die komischen Zwischenspiele, die „Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war“ so unterhaltsam machen. Eingeteilt in die drei Kapitel „Kindheit“, „Teenager-Zeit“ und „Erwachsenenalter“ erzählt die Regisseurin so glaubwürdig und anspruchsvoll vom Heranwachsen. Es geht um Geschwisterkonflikte und erste Liebe, den Tod und unvollkommene Väter, unglückliche Mütter und die Loslösung vom Elternhaus, um Freude und Trauer, um das Leben. All das spielt vor dem Hintergrund der 1970er- und 1980er-Jahre in der Bundesrepublik, die durch liebevolle Ausstattung und detailfreudiges Kostümdesign perfekt abgebildet sind. Die Darsteller, allen voran Laura Tonke, Devid Striesow und Arsseni Bultmann als 14-jähriger Josse, fügen sich wundervoll in ihre Rollen. Ohne sie mag man sich den Film gar nicht mehr vorstellen.