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Filmkritik
In den letzten Jahren haben sich die Blicke der Menschen oft verfehlt. Wer in Programmen wie Zoom oder Skype seinem Gegenüber in die Augen sehen wollte, musste dafür direkt in die Kamera schauen – und konnte deshalb nicht auf das Fenster mit der anderen Person blicken. Die Form der Kommunikation, die in der Pandemie-Zeit am meisten an Bedeutung gewonnen hat, erlaubt keine wirkliche Wechselseitigkeit.
Ausgerechnet diese Reziprozität ist es, der die Hauptfigur von Stéphan Castangs „Vincent Must Die“ in Gefahr bringt. Würden sich Menschen nur noch per Videokonferenz austauschen, wäre sein größtes Problem gelöst. Denn immer, wenn der Grafikdesigner Blickkontakt mit einem anderen Menschen herstellt, attackiert dieser ihn tobend und hemmungslos. Kurze Zeit später kann der Angreifer sich dann an nichts mehr erinnern. Erst prügelt der Praktikant in seinem Architekturbüro auf ihn ein, dann verletzt ihn ein langjähriger Kollege. Sein Chef schickt ihn ins Homeoffice, doch ganz lässt sich der Kontakt zu Menschen nicht vermeiden. Vincent (Karim Leklou) zieht sich immer weiter aus dem gesellschaftlichen Miteinander zurück. Bis er bemerkt, dass er mit seinem ungewöhnlichen Problem nicht allein ist. Im Gegenteil: Es scheint sich langsam zur Volkskrankheit zu entwickeln.
Einsamkeit als Pandemie
Ein Paranoia-Thriller über Vereinzelung, gesellschaftliche Atomisierung und neue Arten von Kommunikation also. Hitchcocks Grunderzählung vom zu Unrecht Verurteilten in neuer Form, später auch eine Art Apokalypse- oder Zombie-Geschichte. So weit, so transparent. Es ist eine seltsame Feedback-Schleife: Einsamkeitsbilder verdichten sich im Kino heute fast zwangsläufig zur Pandemie-Metapher, während die Pandemiezeit mit den verordneten Mindestabständen und der Ansteckungsgefahr, die einen zwingt, andere zu meiden, wie eine von Künstlern erdachte Einsamkeits-Metapher wirkt. „Vincent Must Die“ präsentiert sich gleichzeitig sehr zeitgeistig und merkwürdig unspezifisch, überdeterminiert und orientierungslos.
Dramaturgisch läuft der Film schnell ins Leere; die faszinierende Grundprämisse findet im zweiten Akt keinen Halt mehr und zerfasert immer weiter. Nach einigen überzeugend inszenierten Spannungsszenen, in denen sich Vincent gegen Fremde zur Wehr setzen muss, beginnt eine visuell und dramaturgisch repetitive Phase. Während die langen Zooms, mit denen Vincent zunehmend paranoid aus seiner Wohnung blickt, noch eine gewisse Dynamik bieten, ist sein späteres Landleben völlig statisch. Wer der Welt entflieht, hat von ihr auch keine Bilder zu erwarten.
Mensch ohne Gesellschaft
Denn seit das Internet kein separater Erfahrungsraum mehr ist und die Schwellenbewegung des „Online-Gehens“ eine nostalgische Note bekommen hat, ringt das Kino mit den Darstellungsmöglichkeiten für das Digitale. Vincent lernt im Lauf der Handlung einen Mann namens Joachim DB (Michaël Perez) an einer Tankstelle kennen, der sich bald als Mitleidender identifiziert – auch er wird von jedem Menschen attackiert, dem er in die Augen blickt. Früher war er Universitätsprofessor, jetzt lebt er allein und rät Vincent dazu, sich wenigstens einen Hund anzuschaffen. Außerdem informiert er ihn über die Online-Hilfsgruppe der „Sentinelesen“ – benannt nach dem von der Außenwelt isolierten indigenen Volk auf North Sentinel Island. In Foren und Chats tauschen sie sich über das autarke Leben aus. Irgendwo zwischen Prepper, Hikikomori und Geheimbündler soll eine neue Daseinsform entstehen. Ein Mensch ohne Gesellschaft.
Natürlich ist Vincents Leben schon vor dem Rückzug ungemein digital. Bei der Arbeit platziert er virtuelle Eier in virtuellen Küchen, seine Dates beginnen mit Wischbewegungen auf Dating-Apps und enden mit traurigen Erinnerungen an seine Verflossene. In der Isolation wird sein Leben noch unwirklicher. Die Kamera filmt immer wieder verpixelte Computeroberflächen und gleitet daran ab. Es entsteht kein Gefühl für und kein Bild von Gemeinschaft, kein sozialer Raum, lediglich ein kollektives, schwarmförmiges Eremitendasein.
Der Film verdeutlicht vor allem eins: Das Kino braucht neue Einsamkeitsbilder, die die Omnipräsenz fremder Stimmen, Worte und Meinungen einbinden. Mit der Einsamkeit ist man heute nicht mehr allein, aber sie kennt keine Öffentlichkeit, keine wirklichen Diskursräume, keine Physis. Keine Wechselseitigkeit. Fragen von Präsenz und Absenz müssen neu gestellt werden. Wie zeigen wir Menschen, mit denen wir im ständigen Austausch stehen, die aber nicht anwesend sind? Wie zeigen wir, dass jeder Mensch sich mit Dutzenden von ihnen umgibt, als würde ihn ein Heer von Geistern begleiten?
Die Liebe als letzter Fluchtpunkt
Weil das Kino ein inhärent romantisches Medium ist, in dem man wie verliebt zu riesenhaften Gesichtern aufblickt, kennt es für Vincents Probleme eine nahliegende Lösung. Bei seinen seltenen Einkäufen in einem Imbiss lernt er die Kellnerin Margaux (Vimala Pons) kennen. Die beiden verlieben sich ineinander, durch Augenbinden und Handschellen wird auch ein Miteinander möglich. Die Gewalt verschwindet nicht, aber wird eingehegt. So liegt das Heil wieder einmal in der Paarbeziehung.
Deshalb bietet der Film einerseits etwas wohlfeile, privatistische Gesellschaftskritik, die sich nicht mit den Zwängen des Markts, dem Mangel an Begegnungsstätten und vielen anderen Faktoren beschäftigen kann und will. Die Liebe als letzter Fluchtpunkt darf nicht die alleinige Antwort auf die Vereinzelung sein. Die digitalen Sentinelesen haben nicht, wie Henry David Thoreau in seiner Aussteiger-Erzählung „Walden“, das Ziel, „dem eigentlichen, wirklichen Leben näherzutreten“. Sie reagieren auf unmittelbare körperliche Bedrohung. Sie fliehen, weil sie müssen.
Andererseits ist ein Appell für die Öffnung gegenüber anderen, allen Risiken zum Trotz, natürlich aufrichtig und rührend. Es wird auch nicht naiv vorgetragen, denn Vincent hört nie auf, in Gefahr zu sein und auch selbst Gefahr zu werden. Keine Liebe, kein Austausch, keine Wechselseitigkeit ohne Wagnis. Wer die Deckung senkt, macht sich verletzlich. Wer anderen in die Augen schaut, wird nie wissen, was er dort findet.