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Filmkritik
In „Birkenau und Rosenfeld“ (2002) von Marceline Loridan-Ivens gewann eine Auschwitz-Überlebende ein Flugticket nach Krakau. Sie fuhr an die Orte ihrer Kindheit und in das Vernichtungslager. Auch wenn man sich dort inzwischen geschäftstüchtig auf jüdische Touristen eingestellt hatte, wurden lang verdrängte Emotionen wach, denen sich die Frau bislang verweigert hatte.
Zwanzig Jahre später versucht sich Julia von Heinz an einem ähnlichen Erinnerungsstoff, wobei sie auf Humor statt auf intensive Trauerarbeit setzt. Im Mittelpunkt der Adaption des Romans „Zu viele Männer“ von Lily Brett steht ein kompliziertes Vater-Tochter-Verhältnis, das von ständigen Konflikten und einem wenig liebevollen Umgang geprägt ist.
Wo sind all die Menschen geblieben?
Die jüdisch-US-amerikanische Journalistin Ruth (Lena Dunham) verschlägt es nach dem Fall des Eisernen Vorhangs von New York nach Polen; im Gepäck hat sie kiloweise Literatur über den Nationalsozialismus. Sie möchte endlich mehr über ihre Vorfahren erfahren, über all die Tanten und Cousinen, die sie nie zu Gesicht bekommen hat.
Eigentlich wollte sie die Reise nach Łódź, wo ihr Vater Edek (Stephen Fry) aufgewachsen ist, allein antreten. Doch Edek macht sich Sorgen um ihr Wohlergehen in einem Land, dessen Antisemitismus er noch lebhaft in Erinnerung hat. Er begleitet Ruth gegen ihren Willen und torpediert gut gelaunt alle ihre Versuche, an die Orte seiner Vergangenheit zu fahren. Dazu gehört die Fabrik der früheren Industriellenfamilie ebenso wie Auschwitz-Birkenau, wohin Edek mit seiner Frau deportiert wurde.
In der verwahrlosten Wohnung ihrer Familie trifft das Duo auf Polen, die noch nie Miete bezahlt haben und die Gunst der Stunde sofort erkennen. Sie verkaufen das alte Familienporzellan oder den Mantel von Edeks Vater gegen teure Dollarnoten an die einstigen Besitzer, denen sie zugleich unterstellen, ihre Wohnung zurückhaben zu wollen. Der Fahrer (Zbigniew Zamachwoski), der Ruth und Edek durch Polen kutschiert, schämt sich für seine Landsleute und versucht die Wogen mit selbstgekochten Essen zu glätten, was vor allem Edek zu schätzen weiß.
Das bei aller Schwere auf Leichtigkeit setzende Road Movie braucht lange, bis es auf den musikalischen Spuren von Chopin zum Kern der Traumata vordringt. Vater und Tochter sitzen über weite Strecken im Taxi und pflegen ihre Auseinandersetzungen, während die melancholische Winterlandschaft an ihnen vorbeizieht. Doch selbst jetzt will Edek die Fragen seiner essgestörten, mit ihrem Privatleben hadernden Tochter nicht beantworten. Stattdessen macht er ihr Vorwürfe, dass sie noch keine Kinder in die Welt gesetzt hat, und schlägt vor, Museen zu besuchen oder an der Hotelbar mit fremden Frauen zu feiern.
Zwischen Realismus und überdrehter Fiktion
Man erlebt das immer noch vom Weltkrieg gezeichnete Polen der Nachwendezeit, trist, grau und vernebelt. Gleichzeitig trägt das Hotelpersonal imperiale Uniformen, als käme es direkt vom Set von „Grand Budapest Hotel“. Es ist zu bezweifeln, dass in dem postkommunistischen Land zwei Jahre nach dem Mauerfall solche Outfits üblich waren und alle Hotelmitarbeiter halbwegs Englisch sprachen. Dass sich der Film zwischen Realismus und überdrehter Fiktion nicht entscheiden kann, ist bedauerlich. Auch die von Stephen Fry trotzig platzierten Witze passen bei allem Verständnis für den besonderen jüdischen Humor nicht so recht zur schmerzhaften Katharsis im Finale. Dort muss er sich in seiner KZ-Baracke, die auf dem Gelände von Auschwitz-Birkenau immer noch existiert, den erschütternden Erinnerungen stellen. Dazu gehört auch das Ausgraben einer Metalldose an der Kellertür der einstigen Fabrik ihrer Familie, wo er mit seinem Vater kurz vor dem Abtransport ins Ghetto Besitzurkunden und Fotografien hinterlegt hat, auch von seiner Schwester und deren Töchtern, die alle umgekommen sind und die er gegenüber Ruth nie erwähnt hat. Sie ist die Alleinerbin des einstigen Besitzes, und Edek ermuntert sie, ihre Ansprüche irgendwann geltend zu machen.
So konventionell der Film auch ist, so vermittelt er dank einer unaufdringlichen Bildsprache, fehlender Rückblenden und dramatischer Zuspitzungen letztlich eine sanfte, hoffnungsvolle Atmosphäre. Am Ende hat man als Zuschauer auch all die inszenatorischen Fehlgriffe vergessen und dass man lange Zeit darauf wartete, dass der Film sich nicht nur auf das packende Spiel der Hauptdarsteller verlassen, sondern mehr künstlerische Risiken eingehen würde.