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Filmkritik
Unter den vielen individuellen Geschichten aus der Shoah ist die von Harry Haft eine der ungewöhnlichsten. Der 1925 im polnischen Belchatow als Herzko Haft geborene Jugendliche wurde 1941 zusammen mit seiner jüdischen Familie in deutsche Vernichtungslager deportiert, zeitweise auch nach Auschwitz. Dort fiel einem SS-Wachoffizier seine körperliche Stärke auf. Er wurde von ihm protegiert und über Umwege zum Boxer ausgebildet.
Zur Unterhaltung der Deutschen musste er in Kämpfen auf Leben und Tod gegen Mitgefangene boxen. Auf diese Weise überlebte Haft bis 1945. Auf einem der berüchtigten „Todesmärsche“ in Böhmen gelang ihm die Flucht, auf der er schließlich in New York landete, wo er 1949 eine Profikarriere als Boxer begann. Bis zu seinem Tod 2007 versuchte Haft, mit den traumatischen Erinnerungen fertigzuwerden, die ihn nicht mehr losließen.
Bis an die Grenze des Melodramatischen
Der Film „The Survivor“ von Barry Levinson setzt im Jahr 1963 ein. Ein älterer Mann steht am Strand von Miami. Er ist spürbar unruhig und wird von etwas Unaussprechlichem heimgesucht. Er denkt zurück, seine Gedanken springen ins Jahr 1941, das Bild wird schwarz-weiß, und er ist wieder der Jüngling in Polen, der „sein Leben vor sich hat“, aber kurz darauf Zeuge der Deportation seiner Freundin Leah wird. Seitdem hat er sie nicht mehr gesehen.
Man erschrickt, weil einem in diesem Augenblick die Vergangenheit entsetzlich naherückt, weil man begreift, dass der ältere, müde aussehende Mann am Strand von Florida noch keine 40 Jahre alt ist. Es sind solche Szenen, bis an die Grenze zum Melodramatischen inszeniert, die „The Survivor“ prägen. Durch sie versteht man unmittelbar etwas vom Schicksal und der persönlichen Last der Hauptfigur.
Die Handlung entfaltet sich parallel auf drei Zeitebenen: die in schwarz-weiß gehaltenen Jahre im KZ, die Zeit der Boxerkarriere zwischen 1949 und Mitte der 1950er-Jahre, die im Kampf gegen dem legendären Rocky Marciano gipfelt, und eben jener Sommer 1963.
Fast wie in einem Schtetl
Im Zentrum steht die Boxerlaufbahn. Barry Levinson bettet die Hauptfigur in das Milieu von Brighton Beach, Brooklyn, in der unmittelbaren Nachkriegszeit ein. Der von osteuropäischen Einwanderern geprägte Stadtteil ist in dieser Zeit von Shoah-Überlebenden bevölkert, die mit ihren schrecklichen persönlichen Erlebnissen und dem Verlust ganzer Familien fertigwerden müssen. Das trifft auch auf Haft zu, dessen Familie bis auf einen seiner Brüder ermordet wurden.
Wenn Levinson die Lokale zeigt, in denen Jiddisch gesprochen wird und traurige europäische Lieder erklingen, wodurch für Momente die Atmosphäre eines osteuropäischen Schtetls wiederersteht, dann fließen spürbar auch die persönlichen Erfahrungen des Regisseurs mit ein. Barry Levinson, Sohn russischstämmiger Juden, wuchs in den 1940er- und 1950er-Jahren in Baltimore auf; seiner Kindheit hat er in vier autobiografischen Werken – „American Diner“, „Tin Men“, „Avalon“ und „Liberty Heights“ – zwischen Nostalgie und Realismus – ein Denkmal gesetzt.
„Deals“ mit dem Teufel
„Liberty Heights“ war auch der erste Film für Ben Foster, der nun in „The Survivor“ mit außergewöhnlicher Verwandlungsbereitschaft die Herausforderung meistert, eine Figur über ein Vierteljahrhundert und zwischen der körperlich versehrten Statur des abgemagerten Häftlings und dem Kraftpaket des Schwergewichtsboxers zu spielen.
Levinson zeigt, wie die Hauptfigur als der „Held, der Auschwitz überlebt hat“ von der Presse vermarktet wird, was Haft einerseits widerstrebt, er aber doch befördert, weil er nur so eine Chance sieht, bekannt zu werden und gegen Marciano kämpfen zu können. Der eigentliche Grund, warum er weiterboxt, besteht darin, der Welt mitzuteilen, dass er überlebt hat; nur so hofft er, seine Jugendliebe Leah wiederzufinden.
„The Survivor“ ist ein Film über solche „Deals“ und mehr als einmal auch über einen „Pakt mit dem Teufel“. So wie Haft im Lager in einer prägnanten Szene das Angebot seines SS-Beschützers mit einem Handschlag besiegelt, tut er dies später mit dem Angebot des Sportjournalisten Emory Anderson (Peter Sarsgaard) und sogar mit Marcianos Trainer Charlie Goldman (Danny DeVito). Kurioserweise trainiert Goldman auch Haft, macht ihm aber unmissverständlich klar, dass er gegen Marciano „nicht gewinnen, sondern nur überleben“ kann, da Marcianos Kämpfe von der Mafia manipuliert werden.
Hat man immer eine Wahl?
„The Survivor“ ist damit ein Film über das Verhältnis zwischen Freiheit und Zwang. „Man hat immer eine Wahl“, sagt Harry ausgerechnet seinem SS-Beschützer. Der Film verweist damit auf die Konsequenzen einer Situation, in der es scheinbar nur ums individuelle Überleben geht. Levinson knüpft damit an die provokative Zuspitzung von Jean-Paul Sartre in dessen „Überlegungen zur Judenfrage“ an, dass der Mensch selbst im KZ frei sein konnte.
Damit hängt die zweite zentrale Frage zusammen, die sich als roter Faden durch den Film zieht: „Warum haben sich die Juden nicht gewehrt?“ „The Survivor“ führt vor, wie schwer es war, sich zu wehren. Haft war einer, der sich gewehrt hat, dabei musste er aber wortwörtlich über Leichen gehen, was ihn sein Leben lang verfolgte.
„The Survivor“ ist eine fesselnde, herausragend inszenierte Studie über die Kunst des Überlebens, über den Wunsch, kein Opfer zu werden, und über die Opfer, die das Überleben kostet.
Levinsons Regie knüpft dabei an das klassische Hollywood an. Ein Film über eine abgründige Variante des „American Dream“ – vom KZ-Häftling zum Sport-Star –, der die Grenzen des Melodramatischen streift, aber nicht überschreitet – und sei es nur dadurch, dass er den „Holocaust-Kitsch“ mit sehr realistischen „bösen“ Bildern drastisch durchkreuzt.
„God Bless America“
Neben den bis in Nebenrollen ausgezeichneten Darstellern sticht auch die sehr besondere Lichtsetzung und Kameraarbeit von George Steel hervor. Die digitalen Bilder sind trotz des Themas von nostalgischer Schönheit durchtränkt und von Technicolor nur für Experten zu unterscheiden. Alles atmet das Flair einer vergangenen Epoche.
Gleichzeitig meint es Barry Levinson aber auch sehr ernst mit diesem Film. Äußerst geschickt setzt er sich zu den vielen anderen Filmen über die Shoah ins Verhältnis, denen er durch Hafts ungewöhnliche Geschichte eine neue Seite abgewinnt, wobei er durchs Boxer-Sujet auch dem New-Hollywood-Kino die Reverenz erweist; Levinson fühlte sich dieser Epoche immer wahlverwandtschaftlich verbunden.
Am Ende hört man eine Sängerin auf Jiddisch „God Bless America“ anstimmen. Das ist vielleicht der einzige Moment, in dem der Film doch zum Kitsch gerinnt. Aber wer hätte dazu mehr Recht als jüdische Überlebende, denen die USA Zuflucht bot? Auch hierin meint es Levinson ganz ernst.