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Filmkritik
Die neunjährige Cáit (Catherine Clinch) liegt im hohen Gras. Stimmen rufen nach dem Mädchen. Sie aber regt sich nicht. Für einen Moment fürchtet man, dass sie tot sein könnte. Dabei sehnt sich das eigenbrötlerische und schweigsame Kind lediglich nach dem Verschwinden: Wer lange genug stillhält, wird vielleicht übersehen.
Die von Armut eingeschnürte Enge des elterlichen Hauses, die älteren Geschwister, von denen sie skeptisch beäugt wird, und die angespannte Stimmung zwischen den Eltern – alles wird ihr zu viel. Die Farm wird schlecht bewirtschaftet, die Kinder werden vernachlässigt. Der Vater verzockt im Pub beim Kartenspiel die letzte Milchkuh. Die Mutter vergisst die Pausenbrote vorzubereiten. Das Haus gleicht einem Keller. Doch trotz all dieser Widrigkeiten zieht Cáit ihre Wut in eine innere Anspannung hinein: Jeder Atemzug ein stilles Erdulden.
Blicke und schweigsame Beredsamkeit
Weil erneut Nachwuchs ins Haus steht und alle mit der wortkargen Ausreißerin überfordert sind, wird Cáit während der Sommerferien Anfang der 1980er-Jahre zur Verwandtschaft der Mutter geschickt – auf die Kuhfarm des kinderlosen Paares Seán (Andrew Bennett) und Eibhlín (Carrie Crowley). Die Kinsellas sind hart arbeitende irische Bauern, die sich hochgearbeitet und einen bescheidenen Wohlstand erreicht haben. Schon beim ersten Blick wird deutlich, dass hier andere wirtschaftliche Verhältnisse herrschen als zuhause.
Während Seán dem Mädchen gegenüber zunächst auf Distanz bleibt, nimmt Eibhlín das Kind mit offenen Armen auf. Sie kümmert sich liebevoll und aufmerksam um das emotional vernachlässigte Mädchen. Je mehr Cáit Vertrauen fasst und das Haus mit Leben ausfüllt, desto mehr öffnet sich auch der alte Bauer, der zu einer Art Vaterersatz wird. Die Beziehung zwischen Cáit und Seán ist von ergreifender, ehrlicher Tiefe. Es sind Szenen fern von jedwedem Kitsch, die hauptsächlich aus Blicken und schweigsamer Beredsamkeit bestehen.
Doch Cáit muss auch lernen, dass selbst unter solcher Vertrautheit, unter tiefer Zuneigung und Warmherzigkeit, ein schmerzhafter Verlust liegen kann. Ohne viele Worte gibt das Mädchen etwas von der Liebe zurück, bis sich das Ende des Sommers anbahnt und die Rückkehr zu den Eltern im Raum steht.
In gälischer Sprache
„The Quiet Girl“ ist wie seine Hauptfigur von einer einnehmenden Stille. Regisseur Colm Bairéad benötigt nur spärliche Dialoge, die mit wenigen Ausnahmen alle in Gälisch gehalten sind, der ursprünglichen irischen Sprache. In den Bildern oder vielmehr durch die Bilder hindurch schmiegt sich dieser Film den Wahrnehmungen seiner Hauptfigur an. Fühlt sich Cáit wohl, erhalten die Bilder einen eigenen Atem. Zur Stille gesellen sich die Langsamkeit und die Nahaufnahme. Kleine Details wie der Schwamm, der die Haut in der Badewanne streichelt, oder der Keks, den Seán beiläufig auf dem Tisch liegen lässt, werden zu haptischen Momenten, die man beinahe fühlen kann. In schwierigen Augenblicken zieht sich hingegen alles zusammen und verhärtet sich der Blick: Ausdruck einer emotionalen Erstarrung.
Vieles davon ist bereits in der Vorlage, der Kurzgeschichte „Foster“ der irischen Autorin Claire Keegan enthalten, in der Cáit die Erzählerin ist, die ihre Wahrnehmung unmittelbar ausdrückt. „The Quiet Girl“ fügt dem eine sinnlich-visuelle Ebene hinzu.
Diese Cáit mag nicht viel sprechen. Dafür aber nimmt sie mit allen Sinnen wahr, aufmerksam und sensibel. Und der Film tut es mit ihr. Colm Bairéad lässt die Kamera zu einem Sinnesorgan des künftigen Erinnerns werden; er erzählt ohne die üblichen dramaturgischen Konflikte, sucht nie das große Drama. Wohltuend ist das und unaufdringlich. Das ist auch das beste Adjektiv, um diesen Film zu beschreiben – nichts drängt sich auf, alles ist inwendiges Erleben.
Das Patriarchale pausiert
Dieses demütige Erzählen von der Kindheit, insbesondere aus der Perspektive junger Mädchen, teilt „The Quiet Girl“ mit einer ganzen Reihe von ähnlichen und doch ganz und gar unterschiedlichen Filmen, die sich in jüngster Zeit den klassischen Jugend-Themen Pubertät, Rebellion und sexuelle Orientierung entzogen haben. „Petite Maman“ von Céline Sciamma wäre ein Beispiel dafür. Oder „Aftersun“ von Charlotte Wells und „Tótem“ von Lila Avilés.
Im Kino verschiebt sich damit die Aufmerksamkeit von den Teenagern auf die frühere Kindheit von Mädchen. So als müsste man die Darstellung von Weiblichkeit erst neu justieren, sie aus den nur schwer zu entkommenden Normen eines patriarchalen Blicks nehmen. „The Quiet Girl“ steht diesen Filmen in nichts nach. Cáit solle sich nicht ob ihrer Schweigsamkeit sorgen, sagt Séan einmal am Strand zu ihr; zu viele Menschen würden die Chance verpassen, nichts zu sagen, und dabei viel kaputt machen. Dasselbe gilt auch für viele Filme, die es verpassen, mit den Bildern zu erzählen, und stattdessen alles zerreden. Das Debüt von Colm Bairéad findet darin seine eigene meisterhafte Form.