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Filmkritik
Eine endlose Pool-Landschaft verschwimmt mit dem azurblauen Horizont der Bucht von Acapulco. Über den erhöht liegenden Felsen erstreckt sich eine luxuriöse Hotelanlage mit exklusiven Suiten. Bilder, die in ihrer Gefälligkeit so trügerisch wirken, als wären sie für eine Social-Media-Plattform aufgenommen. Die Kleinfamilie, die sich dort apathisch auf den Liegestühlen der Sonne entgegenstreckt, passt in dieses Ambiente. Alice (Charlotte Gainsbourg) und ihre beiden Kinder im Teenager-Alter lassen sich von mexikanischen Bediensteten Margaritas aufs Zimmer bringen und den Rücken massieren.
Immer wieder nimmt die Kamera kleine Gesten in den Blick, die eine unmissverständliche gesellschaftliche Souveränität der Urlauber verraten. So auch in einer Szene, in der die Familie von der Hotelterrasse aus einheimischen Männern beim kunstvollen Felsensprung ins Meer zusieht. Man klatscht wohlwollend, bis eine Verlegenheit eintritt, als die Mexikaner im Anschluss unerwartet direkt an sie herantreten und um Geld bitten.
Wie auf den Leib geschrieben
Alice und ihre Kinder werden von Neil (Tim Roth) begleitet, der seltsam deplatziert wirkt. Mit seinem bulligen, von Tätowierungen überzogenen Körper erscheint er neben dem Rest der Familie wie ein alternder Rockstar. Sein Blick ist abwesend, seiner Umgebung gegenüber gleichgültig. Erst nach einer Weile erfährt man beiläufig, dass es sich bei Neil nicht um den Vater der Kinder, sondern um deren Onkel handelt.
Wie schon in „New Order“ wirft Regisseur Michel Franco einen ebenso präzisen wie unerbittlichen Blick auf Klassenunterschiede und die Gewalt, die mit ihnen einhergeht. Auch in „Sundown“ interessieren ihn damit verbundene psychologische Aspekte. Anders als in seinen intimen Sozialdramen wie „After Lucia“, „April’s Daughter“ oder „Chronic“ geht Franco erneut über die Exploration der Charaktere hinaus. Die Spannungen zwischen den Figuren dienen einem Gedankenexperiment, das, ähnlich wie „New Order“, einen übergreifenden gesellschaftskritischen Aspekt besitzt.
Gespielt wird die Hauptrolle des undurchsichtigen Neil von Tim Roth, mit dem Franco eine langjährige Freundschaft verbindet. Der britische Schauspieler war 2012 Jury-Präsident der Sektion „Un Certain Regard“ bei den Filmfestspielen in Cannes, wo Franco mit seinem zweiten Film „After Lucia“ einen Preis gewann. Roth war so beeindruckt von der Intensität des Films, dass er sich als Darsteller für das nächste Projekt ins Spiel brachte. 2015 gewann „Chronic“ dann den Preis für das Beste Drehbuch in Cannes. Roth brillierte darin als unkonventioneller Pfleger für Sterbenskranke. Eine Hauptrolle, die ihm ebenso auf den Leib geschrieben wurde wie die Figur des Neil in „Sundown“.
Eine Kritik der „Kontrollgesellschaft“
Ein großer Teil der Spannung verdankt sich auch hier dem nuancierten Spiel von Tim Roth und der Präzision, mit der er die Figur langsam auf einen Abgrund zutreiben lässt. Es beginnt mit einem Anruf, der die Urlaubsidylle sprengt und Alice in ohnmächtige Verzweiflung stürzen lässt. Die Nachricht vom Tod der gemeinsamen Mutter lässt ihren Bruder jedoch merkwürdig kalt. Am Flughafen kommt es kurz vor dem Einchecken zu einer folgenreichen Wendung. Neil behauptet, seinen Pass im Hotel vergessen zu haben, und versichert, mit der nächsten Maschine nachzukommen. Tatsächlich lässt er sich aber von einem zwielichtigen Taxifahrer in die nächstbeste Absteige im Hafen von Acapulco bringen.
Dort erwartet ihn eine völlig konträre soziale Realität. Plastikstühle auf überfüllten Stränden, übergewichtige proletarische Körper, laute Musik und eine tödliche Schießerei am helllichten Tag. Neil wirkt noch immer wie ein wandelnder Geist, der das Geschehen genießt, ohne sich aktiv einzumischen. Sein Handeln ist von einer rätselhaften Spontaneität geprägt, die sich allen Erwartungen zu widersetzen scheint.
„Sundown“ lebt von diesen überraschenden Wendungen, die Franco mit großer Sorgfalt zu einem verblüffenden Drehbuch orchestriert hat. Nach einer Weile bestätigt sich die Vermutung, dass Neil und Alice Teil eines einflussreichen Familienunternehmens sind, deren Erbe sie antreten sollen. Da es sich dabei um ein industrielles Schlachthaus handelt, das der verstorbenen Mutter gehörte, kommen vielfältige Assoziationen auf: Wirtschaftliche Ausbeutungsverhältnisse, neokoloniale Aspekte des Tourismus im globalen Süden und die Gewaltgeschichte des industriellen Mordens, die von der Praxis des modernen Schlachtens ausgehen, kommen in den Sinn.
Ein naturalistisches Mindgame-Movie
Doch noch mehr als diese offensichtliche moralische Kritik überzeugt Francos Spiel mit Themen von sozialer Kontrolle und Entgrenzung. Während die karrierebewusste Alice schon zu Beginn des Films mit dem Smartphone verwoben scheint, das ihr selbst ihre Kinder kaum entreißen können, wird das Mobiltelefon für Neil zum Knotenpunkt seiner Entkoppelung von der Gesellschaft. Da er es nie in den Lautlos-Modus schaltet, wirken die Klingeltöne der unzähligen verpassten Anrufe und der wütenden Kurzmitteilungen wie ein permanentes Bombardement auf der Tonebene des Films, das instinktiv zusammenzucken lässt. Neil geht jedoch einfach nicht ans Handy, oder antwortet nur kurz mit einer ungerührten Lüge auf eine Sprachnachricht seiner Angehörigen. Die unerklärliche Verweigerung aller sozialen Ansprüche lässt eine subtile Spannung entstehen.
Michel Franco spielt mit einem Gedanken, der in einer Zeit permanenter Selbstkontrolle und totaler Vernetzung eine provokative Utopie wagt: Was, wenn diese regulatorischen Mechanismen ausgeschaltet wären und der Mensch einfach seinen spontanen Instinkten folgen würde? Welches Chaos, welche Empörung träten auf den Plan – und welche Freiheit wäre plötzlich möglich?
Phineas Gage und die Folgen
Franco gelingt ein hochspannendes Plot-Experiment, dessen Naturalismus die Irritation gekonnt verstärkt. „Sundown“ wirkt wie ein Mindgame-Movie ohne die üblichen formalen Stilisierungen. Auch der berüchtigte Twist wird von Franco am Ende so beiläufig enthüllt, dass man ihn beinahe überhören kann. Allen, die mehr darüber wissen wollen, sei die berühmte Fallgeschichte des Patienten Phineas Gage nahegelegt. Umso faszinierender aber bleibt es, wie es Michel Franco erneut gelingt, psychologische und gesellschaftliche Aspekte zu einer originellen Zeitkritik zu verschränken.