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Filmkritik
Lissy (Corinna Harfouch) kann sich nicht mehr einreden, dass alles in Ordnung ist. Ihr dementer Mann Gerd (Hans-Uwe Bauer) ist gerade wieder mit entblößtem Unterleib stiften gegangen, und sie selbst liegt bewegungslos in ihren eigenen Exkrementen. Auf diese Erkenntnis folgt Pragmatismus: Der Mann kommt ins Heim, während sich die krebskranke Frau weiter durch ihren Alltag quält. Das erste Kapitel des Films von Matthias Glasner blickt nüchtern auf den nahenden Tod. Stärker als Angst und Traurigkeit dominieren dabei Ermattung und die Sehnsucht nach Erlösung. Auf eine ohnehin nur mittelfristig wirksame Therapie hat Lissy schlichtweg keine Lust mehr: „So schön ist mein Leben nun auch nicht.“
In „Sterben“ wird der Ausklang des Lebens von entwürdigenden und bürokratischen Prozessen begleitet. Um eine höhere Pflegestufe zu bekommen, muss sich Lizzy schwach geben, tut aus Selbstachtung aber das genaue Gegenteil. Als sie auch noch einen Herzinfarkt erleidet, verhandelt sie eisern mit ihrer prekär lebenden Nachbarin (Catherine Stoyan) über einen angemessenen Preis, um sich pflegen zu lassen. Man einigt sich auf einen Stundenlohn von acht Euro.
Unscharf, aber doch erkennbar
Die slapstickartige Musik im Vorspann verrät aber auch, dass „Sterben“ seinem Thema die Schwere nehmen will. Ungeschminkt ist der Blick auf die Figuren und ihre missliche Lage, frei von Sentimentalität, dafür aber mit reichlich Galgenhumor. Als die gestürzte Lissy ihren Sohn, den Dirigenten Tom (Lars Eidinger), anruft, hebt sie dabei immer wieder angewidert den kotverschmierten Telefonhörer von sich weg. Wenn Mutter und Sohn sich später bei einem langen, grausam ehrlichen Gespräch gegenübersitzen, schneidet der Film mehrmals in eine Totale. Im Vordergrund ist da ein kitschiges Porzellankätzchen zu sehen, das direkt in die Kamera glotzt; unscharf zwar, aber doch erkennbar.
Im zweiten Kapitel widmet sich Glasner Tom, der altersbedingt noch eine eher abstrakte Beziehung zum Sterben hat. Da er aber gerade eine Symphonie seines depressiven Komponistenfreundes Bernard (Robert Gwisdek) einstudiert, die denselben Titel trägt wie der Film, muss er dem Thema nahekommen. Das geschieht, als Tom seinen Vater Gerd im Heim besucht und dessen geistigem Verfall hilflos und überfordert gegenübersteht. Bei den Proben am nächsten Tag scheint er dem Kern der Symphonie durch diese Erfahrung näherzukommen. Der Dirigent wirkt in diesem Moment ergriffen, befindet sich in seiner Selbstbesoffenheit aber auch auf dem Holzweg.
So wie Glasner beim Tod mit reichlich schwarzem Humor jegliches Pathos vermeidet, erliegt er ihm umso mehr, wenn es um die existenziellen Krisen eines hippen Berliner Kulturbürgertums geht. Das Elektroauto, das seinen Geist aufgibt, oder die lässige Mütze mit der Aufschrift „Don’t Panic“ wirken mitunter zwar wie absichtlich platzierte ironische Brechungen, aber der Film gibt sich dann auch wieder ganz dem ichbezogenen Weltschmerz seiner sinnierenden Figuren hin.
Ein emotionaler Gefrierschrank
Dass Tom mit seiner Ex-Freundin (Anna Bederke) einst ein Baby verlor und nun Ersatzvater für das Kind eines Anderen ist, bringt zwei weitere Motive ein. Geburt und Tod folgen nicht aufeinander, sondern überschatten sich. Außerdem ist da auch noch der Kontrast zwischen gefühlter Verwandtschaft und der Entfremdung von der leiblichen Familie. Im Gespräch mit seiner verhassten Mutter wird Tom klar, dass er der gleiche emotionale Gefrierschrank wie sie ist. Corinna Harfouch brilliert in dieser Szene, unbedarft und zugleich doch völlig kaltblütig.
Spätestens beim dritten Kapitel entsteht der Eindruck, dass Glasner weniger einen Film übers Sterben gemacht hat als vielmehr eine schwarze Komödie über eine psychisch verwahrloste Familie. Nun geht es um Toms Schwester Ellen, eine Zahnarzthelferin, die es zum Alkohol und zu falschen Männern zieht. Lilith Stangenberg spielt diese Frau durchaus faszinierend als Mischung aus lustgetriebenem Raubtier und debiler Kindfrau. Die Wunden ihrer Kindheit trägt sie deutlich nach außen. Ihre Verdrängungstaktik heißt Selbstzerstörung.
Ellens Eskapaden wirken mitunter mitreißend, verlieren sich aber auch in Unwesentlichem. Überhaupt mangelt es dem zunehmend zerfransenden „Sterben“ ein wenig an Zuspitzung. Das Verbindende seiner multiperspektivischen Erzählung gerät teilweise völlig in den Hintergrund. Um den Tod geht es über lange Strecken gar nicht mehr und um die Familie nur insofern, als die voneinander isolierten Mitglieder abwechselnd ins Zentrum rücken. Gerade Ellens Geschichte wirkt wie losgelöst vom restlichen Film. Gegen Ende werden dann auch die Kapitel mehr und beliebiger, während sich die Erzählung stärker auf eine künstlerische Krise verlagert.
Im Schmerz einer Hinterbliebenen
Zum Schluss verdichtet sich der Film in einem ungewohnt sentimentalen, dramaturgisch aber durchaus schlüssigen Finale doch wieder. Während der notorisch unterkühlte Tom die Symphonie dirigiert, lernt er über die sich langsam entfaltende Musik zu trauern. Anlass für diese Erkenntnis ist auch, dass sein Freund die Komposition noch einmal entscheidend umgeschrieben hat. Von der Transzendenz eines übermächtigen Chores verlagert sich der Schwerpunkt auf eine Solistin. Das zuvor, auch für Tom, noch abstrakte Todesthema wird nun durch den Schmerz einer Hinterbliebenen konkret.