- RegieChristopher Roth
- Dauer116 Minuten
- GenreDrama
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Filmkritik
Wer in den 1980er-Jahren in der Kommune des Aktionskünstlers Otto Mühl (er schrieb sich selbst Muehl) aufwuchs, auf einem alten Gutshof im Burgenland, umgeben von freier Natur, dem waren die heimischen Tier- und Pflanzenarten vertrauter als seine eigenen Eltern. Von Papa und Mama, die in Städten mit dem Verkauf von Steuersparmodellen das Geld für die Kommune verdienten, wurden die Kinder möglichst früh getrennt. Denn jede Zweierbeziehung und Eltern-Kind-„Fixierung“, so das Dogma, war verboten. Statt dem schädlichen Einfluss der Kleinfamilien-Spießerhölle ausgesetzt zu sein, malte der kollektiv erzogene Nachwuchs inmitten von Getreidefeldern Bilder, spielte, sang und tanzte und half beim Obstanbau und bei der Versorgung der Tiere.
Deshalb ist es ein fast schon aufdringliches Anti-Plausibilitätssignal, wenn Regisseur Christopher Roth ausgerechnet die Hauptfigur Jeanne (Jana McKinnon) mit einem insektenkundlichen Fauxpas in den Spielfilm „Servus Papa, See You in Hell“ einführt: Die Vierzehnjährige hat einen Schmetterling gefangen und hält ihn vorsichtig in Händen. Das Tier breitet seine exotisch großen, hellbraun grundierten Flügel aus. „Der vanessa atalanta oder auch Admiral“, erklärt das Mädchen aus dem Off, was ungefähr genauso richtig ist, als wenn sie später ein Pferd einen Hasen nennen würde. Wobei die Menschen, mit denen sie zusammenlebt, statt Gewaltherrschaft ja auch „Freiheit“ sagen.
Eine fast wahre Geschichte
Es hat also schon seine Richtigkeit, wenn hier Dinge falsch benannt und Lebewesen verkehrt etikettiert werden. „Eine fast wahre Geschichte“, lautet denn auch der Untertitel des Spielfilms, der sich als sanfte Umdichtung des Faktischen verstehen lassen will. Dabei basiert „Servus Papa, See You in Hell“ auf den Erinnerungen der realen Jeanne, der heutigen Schauspielerin Jeanne Tremsal, die im Film ihre eigene Mutter verkörpert. Im Alter von zwei Jahren wurde Tremsal von ihren Eltern in die Kommune des später wegen sexuellen Missbrauchs an Minderjährigen und Verstößen gegen das Betäubungsmittelgesetz verurteilten Otto Mühl gebracht.
Zusammen mit Roth schrieb Tremsal nun das Drehbuch und ergriff dabei in einem Akt bewusster Selbstheilung die Chance, die junge Jeanne stärker und rebellischer zu zeichnen, als sie selbst es je gewesen sei, wie sie sagt. Diese Modifikation fällt nicht ganz so heftig aus wie in Quentin Tarantinos Zurechtrückung „Once Upon a Time in Hollywood“, wo Mitglieder der Manson-Family statt Sharon Tate zu ermorden selbst umkommen. Roth und Tremsal ersannen keine Rachegeschichte. Sie drehten nur leicht an den Realitätsreglern und erzählen vor allem eine Liebesgeschichte unter den erschwerten Bedingungen eines Liebesverbots.
Otto und seine Kommunarden
Die leichte Verschiebung hin zum eher Kommensurablen fängt schon damit an, dass der übergriffige Otto Mühl, damals um die sechzig und in den Maßstäben jener Zeit ein alter Mann, von einem durchaus jugendlichen Clemens Schick (Jahrgang 1972) dargestellt wird und im Übrigen nur „Otto“ heißt; der Name Mühl fällt nie. Es geht weiter damit, dass der Film viel Handkamera-Bildmaterial aufwendet, um Otto in seinen immergleichen Grimassen, Tänzen und Gaga-Gesängen zu zeigen, umgeben von einer irr lächelnden Horde. Eine Witzfigur. Warum nur lassen sich zeitweise bis zu 600 Kommunarden von diesem Möchtegern-Zampano dermaßen manipulieren, dass sie nicht oder erst sehr spät merken, von einem Autokraten beherrscht zu werden?
Diese Frage steht übergroß und brandaktuell im Raum, soll aber sehr offensichtlich nicht beantwortet werden. Stattdessen wiederholt der Film ohne psychologische Erklärungsandeutungen Szenen des Mühlschen Machtapparats und reiht sie entwicklungsarm aneinander. Der weitgehende Verzicht auf dramaturgische Zuspitzungen soll vermutlich die subjektive Normalität des Kommunarden-Alltags betonen.
Den entschiedensten Zugriff aber erlauben sich Roth und Tremsal, indem sie deutlich machen, was sie nicht interessiert. Die Kunst zum Beispiel, was bei einem Regisseur, der selbst als Bildender Künstler auftritt und hier immerhin einen der bekanntesten Künstler Österreichs porträtiert, doch erstaunt. Einmal sieht man Otto, wie er Farbe auf eine Leinwand klatscht, ein anderes Mal, wie er aus der Asche der verbrannten Tagebücher seiner Schützlinge Bilder malt. Aber die Bilder selbst scheren die Kamera von Lydia Richter keine Sekunde. Eines der wenigen Gemälde, die ausgiebig gezeigt werden, ist Jeannes Landschaftsidyll mit jungem Reiter, eindeutig identifizierbar als der 16-jährige Jean (Leo Altaras), in den sie verbotenerweise verliebt ist und den sie eilig wieder übermalt.
Der Guru blickt wehmütig zurück
Dass die Kunst gar nicht interessiert, passt zu Mühls eigener Aussage, dass die Kommune sein größtes Kunstwerk sei. Wenn er am Ende in Handschellen abgeführt wird, vorher aber noch dem Polizisten auf dessen Bitte hin ein Autogramm gibt, unterlegt Roth den wehmütigen Blick des Gurus zurück auf seinen Gutshof mit den melancholischen Klängen des Cat-Power-Songs „Bully“. Auch das wirkt eher grotesk als pathetisch.
Je länger sich der Film zieht und dabei immer wieder ein paar Verfremdungseffekte in Form krakeliger schematischer Zeichnungen der Mühlschen Machtpyramide einstreut, desto fraglicher wird, worauf er mit solchen distanzierenden Einsprengseln eigentlich hinauswill. Während Roth in „Baader“ unmissverständliche Antirealismus-Signale setzte, den Terroristen Andreas Baader wie einen Popstar inszenierte und wie einen Westernhelden sterben ließ, verharrt „Servus Papa, See You in Hell“ im Unentschlossenen.
Zugriff auf alles
Ganz anders trat da der Dokumentarfilm „Meine keine Familie“ (2012) von Paul-Julien Robert auf. Der ebenfalls in der Kommune aufgewachsene Regisseur befragt seine eigene, um Antworten nicht verlegene Mutter und zeigt Original-Videoaufnahmen aus der Kommune, eine hochkonzentrierte Mischung aus autobiografischer Suche und historischer Verortung. Christopher Roth erklärt im Interview zwar, dass Otto ein System geschaffen habe, „das ihm Zugriff auf alles gewährt: auf die Seelen, auf das Geld, auf die Sexualität der Jugendlichen. Das ist systemischer Machtmissbrauch“. Doch dieses System wird seltsamerweise kaum durchdrungen; auch deshalb nicht, weil die illustren Nebenfiguren (gespielt unter anderem von Julia Hummer und Helene Hegemann) der missbräuchlichen Dynamik kaum weitere Aspekte hinzufügen dürfen, außer jeweils eine von vielen zu sein.
„Servus Papa, See You in Hell“ ordnet die ganze Erzählung letztlich einem einzelnen Aspekt dieses Machtsystems unter: dem Liebesverbot und der eifersüchtigen Verbannung aller Jungen ab 16 aus dem Gutshof. Erzählen zu wollen, dass Jeanne all diesen gewaltsamen Widerständen ihre Liebe, ihre Freundschaften und nach einer Flucht zu Pferde sogar wirkliche sexuelle Befreiung abgerungen hat, ist aus der Sicht eines Teenagers und einer um Selbstermächtigung kämpfenden Erwachsenen nur zu verständlich. Ein wirklich interessanter Film wird daraus aber nicht.