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Filmkritik
Der Weg von der kleinen Dorfkirche ins neue Heim ist nicht weit. Doch für das frisch getraute Paar dehnt er sich aufs Unangenehmste. Es ist die erste Bewährungsprobe vor den Dorfbewohnern, die den beiden entlang der Strecke Blicke zuwerfen, teils bohrend-neugierige, teils offen argwöhnische. Für Rosalie (Nadia Tereszkiewicz), die Neue in dem kleinen französischen Ort in den 1870er-Jahren, trägt diese unverhüllte Skepsis nicht dazu bei, ihre Ängste zu mildern, auch wenn es in diesem Moment eher ihr Mann ist, der scheel beäugt wird. Denn der Wirtshausbesitzer Abel (Benoît Magimel) ist um einiges älter. Neben Rosalie wirkt er plump und leicht einfältig; eine Rückenverletzung aus dem Krieg bewirkt, dass er sich nur unter Schmerzen bewegen kann. Zudem ist Abels Einverständnis zu der Ehe mit einer Mitgift von Rosalies Vater erkauft, durch die er seine Schulden beim Fabrikbesitzer Barcelin (Benjamin Biolay) abbezahlen kann.
In diesem Augenblick fragt sich auch Abel, ob er das große Los gezogen hat oder wo der Haken bei der Sache sein könnte. Neben ihm stellt sich seine Frau derweil die bange Frage, ob ihre Ehe über den ersten engeren Körperkontakt hinaus Bestand haben wird.
Der Moment der Wahrheit
Nach ihrem Regiedebüt „Die Tänzerin“ (2016) greift Stéphanie Di Giusto mit „Rosalie“ erneut ein historisches Szenario um eine Frau auf, die sich unter ungünstigen Umständen behaupten muss. Rosalies Problem offenbart sich zuerst in Andeutungen zwischen ihr und dem Vater, bevor Abel in der Hochzeitsnacht die Wahrheit erfährt. Denn von Geburt an wachsen ihre Haare stärker als bei anderen Frauen. Rosalie kann ihre übermäßige Körperbehaarung nur durch schützende Kleidung und regelmäßige Rasuren verbergen. Abel reagiert empört auf den „Betrug“ und ist entschlossen, sie zurückzuschicken; nach dem ersten Schock lenkt er jedoch ein und lässt Rosalie bei sich bleiben, zumal er die Hilfe seiner Frau im Wirtshaus braucht.
Das Ehepaar lebt nun in einem Status der Duldung und des Versteckspiels nebeneinanderher. Die skeptischen Blicke der Dorfbewohner sind zwar nicht völlig verschwunden, erscheinen aber abgemildert. Unvermindert bedrohlich ist jedoch die finanzielle Lage der beiden, bis ein Zeitungsartikel Rosalie den Mut gibt, sich aus ihrer Deckung herauszuwagen. Wenn Besucher Eintritt für Kuriositätenschauen bezahlen, könnte eine „Dame mit Bart“ sicherlich auch den Publikumsverkehr des Wirtshauses beleben? Für Abel eine Horrorvorstellung, doch Rosalie folgt ihrem Instinkt.
Mit dem Bart wächst das Selbstbewusstsein
Wenn sie von da an mit gepflegtem Vollbart vor ihre Gäste tritt, wandelt sich auch die Stimmung des Films. Wie schon bei „Die Tänzerin“ geht es Stéphanie Di Giusto um die Emanzipation ihrer Hauptfigur, die nicht allein äußerlich erfolgt. Die vorher verdruckste und ängstliche Rosalie lebt auf und bewegt sich mit einem Mal souverän durch die gewachsene Schar der Gäste. Sie nimmt auch das Angebot eines Fotografen freudig an, sich mit Bart porträtieren zu lassen. Verbalen Angriffen gibt sie unmittelbar Contra, und sogar der selbstgefällige Provinzfürst Barcelin prallt an ihrem neuen Selbstbewusstsein ab.
Die Inszenierung gibt diesem umfassenden Wandel einen fast märchenhaften Anstrich, der nach dem eher zurückhaltenden Anfang von „Rosalie“ etwas abrupt wirkt und sich weniger selbstverständlich aus der Figur heraus entwickelt als noch bei der Serpentinen-Tänzerin Loïe Fuller in „Die Tänzerin“. Wo Fuller auch im Erfolg nie ihre Verletzlichkeit verlor, scheint Rosalie eine Zeitlang beinahe unantastbar, auch wenn Beschimpfungen und missgünstige Blicke vorwegnehmen, dass ihre Umwelt nicht zögern wird, auch gewaltsam gegen ihr demonstriertes Selbstwertgefühl anzugehen. Nach der Phase des Aufwinds kippt „Rosalie“ schließlich wieder in die tendenziell melodramatische Aura des Beginns zurück, sodass letztlich leicht diffus bleibt, was Stéphanie Di Giusto über die Epoche und die Möglichkeiten der Emanzipation aussagen will.
Die Eheleute reifen aneinander
Die dramaturgischen Schlenker des Drehbuchs, das Di Giusto zusammen mit Sandrine Le Coustumer geschrieben hat, hängen vielleicht auch damit zusammen, dass vom historischen Vorbild des Films, der Café-Betreiberin Clémentine Delait, keine großen Schicksalsschläge überliefert sind. Um die Spannung zu halten, geht Di Giusto weit freier mit den biografischen Vorgaben um als im Loïe-Fuller-Film. Sie stellt die optimistische Studie einer aufbegehrenden Frau in ein realistisches Ambiente mit etwas überzogen negativ gezeichneten Gegenspielern. Dass dies weitgehend aufgeht, liegt neben der sorgfältigen Inszenierung mit einem sicheren Auge für einprägsame Details vor allem an der anfangs noch so unwahrscheinlichen Liebesgeschichte zwischen Rosalie und Abel. „Rosalie“ verliert den kriegsversehrten Gastwirt nicht aus den Augen, sondern stellt die Reifung der Eheleute als beidseitig und voneinander abhängig dar.
Beide werden als Außenseiter porträtiert, denen die Umwelt nahelegt, sich für ihr Äußeres schämen zu müssen. Doch die beiden öffnen sich zusehends füreinander und verwandeln die fragwürdige Zweckgemeinschaft in eine Beziehung, die von Zuneigung und Respekt bestimmt ist. Im Zusammenspiel von Nadia Tereszkiewicz und Benoît Magimel entsteht eine romantische Note, die den Film ins Ziel trägt. Im Kontrast zu all den indiskreten, abfälligen Blicken schauen die Ehepartner sich einander zunehmend aufmerksamer, verständnisvoller und auch zärtlicher an. Am Ende ist Rosalies Revolte kein alle Ketten sprengender Ausbruch ins Ungewisse, sondern ein Schrei nach Liebe und Integration.