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Filmplakat von Orly

Orly

83 min | Drama
Szene %1 aus %Orly
Die Abflughalle ist ein Ort des Übergangs. Denn man ist nicht mehr da, wo man vorher war, aber auch noch nicht dort, wo man sein wird. Manches will man vielleicht zurücklassen, anderes festhalten, manches erhofft man sich, anderes macht einem Angst. Doch während sich die einen gerade auf eine große, die anderen auf eine schwere Reise machen, die einen sich gerade kennenlernen, die andere jemanden verlassen hat, können diese so unterschiedlichen Menschen am Pariser Flughafen Orly im Moment nur eines tun: Warten. Warten im Dazwischen. (j.b.)

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Filmkritik

Ganz am Ende von Angela Schanelecs „Marseille“ (fd 36 715) entschwand die Protagonistin Sophie schlicht und einfach aus der Geschichte: Sie entzog sich dem „aufdringlichen“ Blick der Kamera und wurde Teil der urbanen Anonymität. Intuitiv suchte man sie mit den Augen auf der Leinwand und meinte, sie irgendwo in der Ferne in ihrem gelben Kleid am abendlichen Meer spazieren zu sehen. Was freilich nur ein trügerischer Nachhall auf der Netzhaut sein mochte – oder auch auf der Seele, weil man nicht loslassen will von dieser schönen, stets kontrollierten und doch poetischen Erzählweise der Regisseurin, die einem nichts vorschnell offenbart und der man sich bereitwillig öffnen muss, um über die stillen Momente, die Leerstellen und Ellipsen in der Erzählung hinweg sein ganz persönliches Verhältnis zu den schweigsamen, rastlos flanierenden, suchenden Protagonisten zu finden. Maren Eggert spielte diese Sophie. Sechs Jahre später begegnet man der Schauspielerin nun gleich zu Beginn von „Orly“ wieder: in den belebten Straßen von Paris, wobei sie jetzt Sabine heißt, was man wohl glauben muss – auch wenn man sie immer noch Sophie nennen möchte. Es ist eine Art Prolog: Sabine hat sich von Theo getrennt, der hinter ihr her telefoniert, aber die Dinge nicht mehr aufhalten kann. Sabine will nicht, dass er sie weiterhin anruft. Dass sie auf dem Weg zum Pariser Flughafen Orly ist, um dort einen Brief von Theo zu lesen, wird man erst geraume Zeit später erfahren – jetzt eilt ihr die filmische Erzählung mit einem harten Schnitt voraus, und man begegnet im Flughafengebäude den übrigen Protagonisten des Films. Aber das mit dem Begegnen sagt sich so leicht: Man muss diese Protagonisten nämlich zunächst einmal entdecken, ja sie regelrecht identifizieren zwischen all den vielen Menschen, die den Flughafen bevölkern – allesamt Reisende in einem funktionalen Transitraum, Wartende zwischen dem Ort, den sie zurücklassen, und dem Ziel, das sie bislang nur vom Flugschein ablesen können, Menschen in einem kurzen Moment des erzwungenen Innehaltens, bevor es wie „verordnet“ weiter gehen wird. Wie kurz am Ende von „Marseille“ geht die Kamera hier den gesamten Film über rigoros und konsequent auf Distanz, fotografiert die wenig handelnden, aber viel redenden Personen mit dem Teleobjektiv aus großer Ferne. Wobei die mit Bedacht gewählte Brennweite ein präzise komponiertes Verhältnis zur Umwelt schafft: Im kalkulierten Wechselspiel von Schärfe und Unschärfe bleiben die Protagonisten Teil ihrer (dokumentarischen) Umwelt, und doch kommen die vielen Passanten ihnen und ihren Geschichten nicht allzu sehr in die Quere. Die Kamera erweist sich als unaufdringlich-integrer „Voyeur“, der die kleinen Episoden durch vorsichtige Schwenks von einem Gesicht auf ein anderes oder auch nur durch die Andeutung eines Zooms dramatisiert, und der in Verbindung mit der Montage trotz aller Distanz große emotionale Wirkung erzielt: Bei einer der drei erzählerisch miteinander verzahnten Paar-Konstellationen handelt es sich um eine Mutter und ihren halbwüchsigen Sohn auf dem Weg zur Beerdigung ihres Ex-Mannes respektive seines Vaters; sie erzählt ihm eine erotische Eskapade aus ihrer Vergangenheit, um durch solche „Aufrichtigkeit“ Nähe aufzubauen – was der junge Mann mit unverblümter Wortwahl aufgreift, um ihr zu sagen, dass er schwul sei. Die Mutter stockt, und nach dem Umschnitt sieht man von weitem, wie der Sohn den Arm um sie legt: eine kleine Geste des Trostes, der Zuneigung, der Wärme, die tief berührt. Eher auf Augenhöhe begegnen sich zwei Singles mit zerbrochenen Beziehungen: Juliette fliegt nach Montreal zu ihrem Ex-Mann, Vincent reist beruflich nach San Francisco. Ihre Begegnung beginnt mit einer doppeldeutigen Frage, die unter anderen Umständen albern klingen könnte, hier aber funktioniert: „Wieviel Zeit haben Sie noch?“ Juliette und Vincent tauschen sich aus, es entsteht eine Nähe, die vielleicht sogar tragfähig ist für die Zukunft. Er hat entschieden, sich nach seiner Rückkehr in Paris beruflich niederzulassen, und sie fragt: „Kann ich Sie dort finden?“ Eher verloren hat sich dagegen nach einer neuntägigen Reise ein junges deutsches Paar, dessen gemeinsame Glücksmomente nur noch Erinnerungen im Fotospeicher der Digitalkamera sind; sie liest, während er jedem Gespräch ausweicht und lieber durch die Flughafenhalle flaniert – wobei sein Blick zufällig auf Sabine fällt, die soeben eingetroffen ist, kurz seinen Blick erwidert (was erstmals mit dem Einsatz von Musik vertieft wird) und dann ihres Weges geht. Dem jungen Mann bleibt nur ihr (Phantom-)Bild auf einem zufällig aufgenommenen Foto. Solche impressionistisch in die „wirkliche“ Welt hinein getupften Szenen entwirft Angela Schanelec mit beeindruckender Stilsicherheit, poetisch, unaufdringlich, nur auf den ersten Blick spröde, in Wahrheit aber voller Anteilnahme für die Figuren. Im subtilen Wechselspiel zwischen anonymer Öffentlichkeit und respektvoll belauschter Intimität entwickelt sie eine vielfältige Reflexion über das menschliche Dasein zwischen Ankommen und Abschied, Aufbruch und Endpunkt, über Nähe und Distanz. Durch Sabines „Reise“ zum Flughafen entsteht eine besondere Dynamik: Während sie erst an diesem besonderen Ort den Mut aufbringt, Theos Brief zu lesen, wird der Flughafen evakuiert, bis am Ende das menschenleere Gebäude nur noch von Theos aus dem Off gesprochenen Worten gefüllt wird – ein Moment intensiven (Liebes-)Kinos. Im übrigen durchmischt die Regisseurin allen diese „großen kleinen“ Momente mit wunderbaren selbstreferenziellen Spielereien. So taucht mehrfach, nahezu schweigsam, eine junge Flughafenangestellte auf – mit einer „strengen“ schwarzen Brille wie sie auch Angela Schanelec trägt. Wie die Regisseurin ihre Figuren, so registriert die Angestellte „ihre“ Passagiere beim Einchecken und schaut ihnen mitunter sogar als „Diebin“ ins soeben aufgegebene Gepäck. Von der souveränen „Spielzeit“ Angela Schanelecs ist es im übrigen nicht mehr allzu weit zu Jacques Tatis Monsieur Hulot, der einst in „Playtime“ (1967) ebenfalls mit Räumen und Brüchen spielte – u.a. in der modernistischen Kulisse des Flughafens von Paris, wo sich die Realität nur als Spiegelung auf Fenstern und Glastüren zeigte. Auch bei Tati trafen sich Reisende und Wartende: ein altes Ehepaar, bei dem die Frau den Mann wie einen kleinen Sohn bemutterte, eine Frau, die ein Baby durch die Abflughalle trug, eine junge Frau, die eben erst angekommen war und um die sich Monsieur Hulot liebevoll bemühte; ein Reigen ineinander greifender Episoden um Liebe und Abschied in modernen Zeiten. Man sollte „Orly“ und „Playtime“ einmal als Double Feature ins Kino bringen – und sich dann schweigend wie das kleine Mädchen verhalten, das Sabine in der allerletzten Einstellung von „Orly“ im Taxi mit zurück in die Stadt nimmt und es fragt: „Wohin wolltest Du fliegen?“ Man war „da“ und doch „unterwegs“!

Erschienen auf filmdienst.deOrlyVon: Horst Peter Koll (14.10.2024)
Vorsicht Spoiler-Alarm!Diese Filmkritik könnte Hinweise auf wichtige Handlungselemente enthalten.
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