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Filmkritik
Menschliche Kompetenzen, Ängste und Bedürfnisse sind bisweilen von berückender Rätselhaftigkeit: „Tampons selber filzen“, „Vorsicht! Alter Mann spuckt von Balkon!“, „Wer hat Lust mich zu verprügeln“ oder „Wer möchte mit mir alle drei Teile von ,Die nackte Kanone‘ an einem Stück gucken? DVDs vorhanden“. Auf Zettel geschrieben und an Berliner Laternenpfählen, Ampeln und Briefkästen geheftet, entblößen die Mitteilungen Abgründe. Und markieren für sich doch nur die Spitze eines Eisbergs, den manche den „Berliner Geist“ nennen.
Alle diese millionenfachen Kost- und Kotzbarkeiten erlangten Weltruhm, seit der Wahlberliner Joab Nist sie für sein Blog notesofberlin.com sammelt. Hinter jeder Notiz steckt eine Geschichte. Doch wer hätte bisher die Zeit und die Ruhe gehabt, diese vor Ort aufzuschreiben oder gar in einen personalintensiven Film zu verwandeln? Und wie soll man sich bei diesem Nachbarschaftslärm überhaupt konzentrieren („Fickt leiser!“)?
„eine andere Symphonie einer Großstadt“
Die in Berlin geborene Regisseurin Mariejosephin Schneider hat sich für ihr Spielfilmdebüt von Nists Blog inspirieren lassen. Sie nennt dieses übrigens in Verbeugung vor Walther Ruttmanns berühmtem Film von 1927 „eine andere ,Symphonie einer Großstadt‘“. Mit einem musikalischen Verständnis urbaner Vielstimmigkeit nutzte sie die Zettel nicht einfach nur als Themen-Steinbruch, um Berlin-Klischees zu illustrieren (wie sie jüngst in dem Hochglanz-Imagefilm „Berlin, I Love You“ zu besichtigen waren). Stattdessen ging Schneider mit fast ethnografischer Akribie vor. Jede im Film vorkommende Botschaft hat wirklich existiert; keine der Episoden-Hauptfiguren darf zu einem späteren Zeitpunkt noch einmal ins Bild kommen; die Geschichte eines einzelnen Zettels aber darf über mehrere Figuren hinweg weitergesponnen werden.
Mit diesen selbst auferlegten Regeln schuf Schneider ihren vor allem in der zweiten Hälfte oftmals überraschenden Episodenfilm „Notes of Berlin“. Ihr Zugriff und der ihres Co-Autors Thomas Gerhold ist fragmentarisch und unprätenziös: Keine der von Carmen Treichl im nahbar-unspektakulären 4:3-Format gefilmten Episoden wird auserzählt. Manchmal endet so ein Schlaglicht buchstäblich mit einem Schlag. Schon der erste Zettel hebt Berlin-programmatisch den Graben aus zwischen dem, was ein (gutgemeinter) Spruch will, und dem, was er verursachen kann. Mitten auf einer Kreuzung in Berlin-Mitte empfiehlt jemand auf einem DIN-A-4-Blatt, für einen Moment in den Himmel zu schauen und sich darüber klar zu werden, „wie erstaunlich das Leben ist“. Zumindest für einen Leser dieser Botschaft endet das Leben dann auf der Stelle.
Die Gleichzeitigkeit von wolkigem Achtsamkeitsdiktat und alles platt machender Wirklichkeit gelingt Schneider zum Auftakt also schon mal perfekt: So ist es, das halbgentrifizierte, aber immer noch ausreichend abgewrackte Berlin der Gegenwart, das immerzu als Lebensentwurf vermarktet und in dem trotzdem auch einfach nur vor sich hingelebt (und -gestorben) wird.
Balance aus Satire & coolem Mumblecore
In der ersten Hälfte reiht sich dieses Vor-sich-Hin bisweilen noch etwas länglich aneinander, als sei die Inszenierung bemüht, ein vollständiges Panorama Berliner Lebenswirklichkeiten abzubilden. Doch spätestens, als eine vom Schicksal gerade etwas durchgeschüttelte Studienabbrecherin (Katja Sallay) bei einem WG-Casting als bloße Berlinerin durchfällt - man wünscht sich eine Pariserin oder New Yorkerin mit „kreativem Umfeld“, - überzeugt „Notes of Berlin“ mit ihrer Balance aus satirischer Zuspitzung und coolem Mumblecore.
Das liegt auch am lapidaren Schnitt (Inge Schneider): Statt wie viele andere Episodenfilme überdeutliche Querverbindungen zu schaffen, die man zu entdecken (und sich zu merken!) hat, scheint „Notes of Berlin“ geradezu aufs Vergessen und Abschweifen zu zielen. Als scrolle man durch die Stadt, lässt die Kamera die Protagonist:innen immer wieder stehen und folgt einem Seitenpfad oder einer Nebenfigur. So darf sich Tom Lass in seiner Paraderolle als netter Soziopath nach fünf Jahren erstmals bei seinen Nachbarinnen vorstellen, weil ihm ein Kaninchen zugelaufen ist; der Volksbühnen-Schauspieler Mex Schlüpfer schafft es als personifiziertes Karma, eine junge Frau eloquent in ihrer moralischen Selbstgewissheit zu verunsichern. Andrea Sawatzki betrauert in einer fast stummen Rolle ihren Sohn, ohne Theatralik, dafür umso berührender, während das normale, schroff-schöne Leben um sie herum weitergeht.
Nur lose miteinander vernetzt
Am Ende hängt durchaus nicht alles mit allem zusammen; die urbanen Mikroerzählungen streifen einander höchstens, sind nur sehr lose miteinander vernetzt. So wie man als Stadtbewohnerin es eben selbst erlebt, wenn man im Alltag immer wieder dieselben Leute sieht, manche vielleicht plötzlich nicht mehr, und sich kurz fragt, was aus ihnen geworden ist. Oder ob ihnen auffallen würde, wenn man selbst nicht mehr da wäre. Man wird das ja auch nicht erfahren.