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Filmkritik
In der Welt passiert Umstürzendes: Glasnost trägt gerade seine Früchte. Die Blöcke weichen auf. Die Mauer fällt. 1989 war ein bewegendes Jahr. George H.W. Bush übernahm das Amt des US-Präsidenten von Ronald Reagan und der Kalte Krieg nahm sein Ende.
All das findet bei Louise „Lou“ Langston (Kristen Stewart) eher nebenbei im Fernsehen statt, und auch nur, weil der Apparat bei ihr einfach immer läuft. In der US-Provinz gehen die Uhren ohnehin anders. Hier ist jeder mit sich selbst beschäftigt und hat damit genug zu tun, denn das Leben ist hart. Reichtum, Glamour und Prosperität gibt es allenfalls im nahen Las Vegas, und auch da überwiegt das Schäbige und Trashige. Drogen, Waffenkult, Korruption, spießiger Konservatismus und Sport sind das Maß aller Dinge.
Muskeln statt Glitzerbikini
Hierher verirrt sich Jacqueline „Jackie“ Cleaver (Katy O’Brian) aus dem noch weltfremderen Oklahoma, wo man bis zum Horizont die Besitztümer nur in Mais- und Weizenfelder unterteilt. Jackie ist ausgebrochen, weil sie ihren amerikanischen Traum lebt: Sie will Erfolg, Erfüllung und Anerkennung finden mit dem, was sie tut. Kalifornien scheint dafür prädestiniert. Denn ihr Ziel ist das Gewinnen der Bodybuilding-Meisterschaft der Frauen in Las Vegas. Keine Schönheitswahlen also, die gerne weltweit den politischen Teil der Nachrichtensendungen auflockern, sondern Triumph in der „Physique“-Klasse. Hier geht es nicht um den Glitzerbikini, hier geht es um Muskeln, Masse und Definition.
Der Zufall und Jackies atemberaubende Erscheinung wollen es in „Love Lies Bleeding“, dass Jackie und Lou zusammenfinden. Lou, die ein Gym betreibt und sich in ihrem Heimatort als wortkarge, burschikose Außenseiterin weitgehend abkapselt, und Jackie, die kein Geld und keine Bleibe hat und auf dem Weg nach Las Vegas quasi in jedem noch so schäbigen Kraftraum lebt und pumpt. Jackie mag Frauen und ist nicht gerade wählerisch, Lou fühlt sich von der Drifterin, die das Flair von Anderswo in ihre kleine Welt bringt, angezogen. Die die beiden Underdogs fühlen sich zueinander hingezogen. Vielleicht auch mehr.
Es könnte also der Beginn einer ungewöhnlichen Liebesgeschichte sein, die sich Rose Glass zusammen mit ihrer Co-Autorin Weronika Tofilska ausgedacht hat. Underdogs aus ärmlichen Verhältnissen träumen von gesellschaftlichem Aufstieg in den ländlichen USA und erreichen ihn mit dem Gewinn der Meisterschaft im Bodybuilding. So oder so ähnlich hat es Bob Rafelson 1976 in „Mr. Universum“ schon einmal erzählt, nur dass hier Arnold Schwarzenegger und das Bodybuilding noch die Sidekicks waren und das Liebespaar noch heterosexuell war. Glass, die neben dem Drehbuch auch für die Regie verantwortlich zeichnet, gibt dem bis heute nicht wirklich ernst genommenen „Show-Sport“ die Bühne, die ihm einst die 1980er-Jahre boten. Baseball, Football, aber im Zuge des Fitness- und Aerobic-Hypes auch Armwrestling und Bodybuilding, das waren die wichtigen Sportarten, die vor allem auch im ländlichen Amerika im Fokus standen.
Eine kaputte Welt
Doch „Love Lies Bleeding“ ist mitnichten ein (Liebes-)Sportfilm, sondern ein handfester Sozialthriller. Die Welt, in die Jackie da stolpert, besteht nicht, wie sie es sich erhofft, nur aus Gym-Sessions und ausgiebigem Liebesspiel mit ihrer neuen Freundin. Schon mit dem ersten (unbewussten) Kontakt mit Lous Vater Lou Langston Sr. (Ed Harris) ist klar, in welche Welt die Sportlerin hier eintaucht. Lou Sr. leitet nicht nur den örtlichen Schießstand, sondern hat auch sonst als zwielichtiger Pate die Stadt voll im Griff. Deswegen hat Lou allenfalls noch Kontakt mit ihrem Vater, wenn es um Beth (Jena Malone) geht. Lous ältere Schwester nennt ihre Ehe mit J.J. (Dave Franco) zwar stoisch „glücklich“. Doch die chronischen Veilchen im Gesicht und die regelmäßigen Aufenthalte im Krankenhaus sprechen eine andere Sprache. Es ist eine kaputte, brutale Welt, aus der sich Jackie und Lou hier flüchten müssen, doch sie schaffen dies allenfalls allabendlich im Bett.
„Love Lies Bleeding“ atmet die 1980er-Jahre. Nicht nur als akkurates Drama, das einen ungeschönten Blick auf ein Amerika jenseits der heilen Vorstadtwelt ermöglicht, sondern auch filmgeschichtlich. Rose Glass versieht ihre Geschichte nämlich mit den typischen Wendungen der in dieser Zeit so beliebten „Videotheken-Ware“. Die (Anti-)Helden kommen durch Drogen (hier durch die Steroide, die Lou ihrer Freundin regelmäßig verabreicht) auf die schiefe Bahn. Lou mordet im Rausch, und auch Lou Sr. gerät bei den Vertuschungsversuchen ins Visier der Polizei. Auch diese schleichende Eskalation der Dinge inszeniert Glass ganz im Stil der Zeit. Überstilisiert, grafisch, mit etlichen erotischen Eskapaden im Gegenlicht, gewürzt mit zeitgenössischem Pop und einem brillant auf billige Synthesizer-Filmmusik der Zeit getrimmten Score von Clint Mansell inszeniert die Regisseurin hier eine Art Meta-Zitat zum Action-Kino der 1980er-Jahre.
Eine augenzwinkernde „Thelma & Louise“-Variante
Unterschiede zu den originalen Prügel-/Erotikfilmen der Zeit sind indes vor allem durch das brillante Spiel der Akteure auszumachen und durch die Ernsthaftigkeit, in der hier das Leben der Underdogs gezeichnet wird, das in den hier zitierten B-Pictures in der Regel nur oberflächliche Fassade für Prügel- und Gewaltorgien bot. Glass ist es gelungen, die alten Strukturen dieses Kinos aufzubrechen und daraus eine erstaunlich moderne und durchaus augenzwinkernde „Thelma & Louise“-Variante zu machen.