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Filmkritik
Vor gut zehn Jahren, vor Insa Wilkes Studie „Ist das ein Leben. Der Dichter Thomas Brasch“, vor Christoph Rüters Dokumentation „Brasch: Das Wünschen und das Fürchten“, vor Marion Braschs Roman „Ab jetzt ist Ruhe“, vor Annekatrin Hendels Recherche „Familie Brasch“ und zuletzt Mascha Qrellas Brasch-Vertonungen „Woanders“, hätte die Behauptung, dass der Dichter, Übersetzer und Filmemacher Thomas Brasch (1945-2001) keiner größeren Öffentlichkeit mehr bekannt sei, vielleicht eine gewisse Berechtigung gehabt. Rückblickend musste das seltsam erscheinen, denn Brasch war einmal eine ganz große Nummer. Seine zweite Publikation „Vor den Vätern sterben die Söhne“ schlug 1977 wie eine Bombe ein, ein Bestseller, der passend zur gleichzeitigen Punk-Bewegung die (komplexe) Aussage sogleich als (nihilistischen) Slogan aufgriff. Brasch krachte seinerzeit mit Wucht in die bundesrepublikanische Szene, brachte Katharina Thalbach mit in den Westen und drehte den ebenso provokanten wie stilistisch ambitionierten Spielfilm „Engel aus Eisen“, der dann als Debütfilm gleich im Wettbewerb in Cannes lief.
Dank für die Ausbildung in der DDR
Brasch zeigte, wie würde- und wirkungsvoll es sein kann, jene Hand zu beißen, die einen füttert, als er das bundesrepublikanische Establishment und stellvertretend Franz Josef Strauß damit provozierte, dass er bei der Verleihung des Bayerischen Filmpreises zunächst den Widerspruch thematisierte, „dem anarchischen Anspruch auf eine eigene Geschichte ein Denkmal zu setzen“ und gleichzeitig dafür Geld von denen zu erhalten, die diesen Anspruch unterdrücken wollen und müssen, um anschließend auch noch der Filmhochschule der DDR für seine Ausbildung zu danken.
Wenn Brasch bei dieser Gelegenheit davon sprach, dass die Gegenwart geprägt sei vom „Kampf des Alten, das tot ist, aber mächtig, und dem Neuen, das lebensnotwendig ist, aber nicht in Aussicht“, dann ist dies eine exakte Beschreibung einer Haltung, die öffentlich und politisch als doppelte Dissidenz in beiden deutschen Staaten missverstanden wurde, die aber wohl eher die eines „berufsmäßigen Solisten“ (Esther Dischereit) oder eines „öffentlichen Träumers“ (Brasch über Brasch) ist.
Als Thomas Brasch gegen die Niederschlagung des „Prager Frühlings“ protestierte, wurde er von seinem Vater Horst Brasch, dem stellvertretenden Kulturminister der DDR, aus einem erzieherischen Impuls heraus an die Staatssicherheit verraten. Er landete zuerst im Gefängnis und dann zur Bewährung in der Produktion, bevor er schließlich von Helene Weigel protegiert wurde. Als er als freier Autor im Osten kaum etwas publizieren durfte, veröffentlichte er sein Erfolgsbuch dann „in Notwehr“ beim „Rotbuch“-Verlag im Westen. Er reiste in den Westen aus und feierte dort Erfolge, blieb mit seiner provozierenden Ernsthaftigkeit aber zuverlässig unbequem. Nach 1989 kam er dem Kulturbetrieb irgendwie abhanden; er arbeitete an einem unvollendeten Mammutprojekt und starb schließlich mit 56 Jahren, überlebt seinen Vater allerdings um ein gutes Jahrzehnt. Was für ein Stoff!
Eine vage Utopie für Neues
Im letzten Jahrzehnt gab es reichlich Gelegenheiten, über Thomas Brasch zu stolpern; zudem ist sein Werk greifbar. Wenn der Filmemacher Andreas Kleinert und der Drehbuchautor Thomas Wendrich sich jetzt mit dem stilisierten Biopic „Lieber Thomas“ dieser fast schon mythischen Vater-Sohn-Ost-West-Alt-Neu-Stofflandschaft annehmen, greifen sie die eigentümliche Wirkungsgeschichte produktiv auf, indem sie einige Abstraktionsebenen einschieben. „Lieber Thomas“ ist kein Film über das (abenteuerliche) Leben eines ungewöhnlichen Schriftstellers, auch keine Literaturverfilmung, sondern eher ein Film über das Leben mit der und für die Kunst. Also kein Film über die Familie Brasch, keine psychologische Recherche, sondern die Liebeserklärung an einen charismatischen Idealisten, dessen vage Utopie einer Offenheit für Neues sich schon deshalb nicht präzisieren ließ, weil unzählige Vätergenerationen das Alte für Künftiges längst fixiert haben. Diesseits und jenseits der Mauer. Daran hat sich Thomas Brasch gerieben. Oder, wie Brasch es selbst einmal formulierte: die zwölf Jahre Faschismus hätten 1848 begonnen und 1945 nicht geendet.
So ist „Lieber Thomas“ einerseits eine Art filmischer Schlüsselroman mit Auftritten von Bekannten wie den drei Brasch-Brüdern, dem Ehepaar Robert und Elisabeth Havemann, Katharina Thalbach oder Bettina Wegener, andererseits aber zugleich eine Fantasie über diese Biografie mit Leerstellen, Verdichtungen und dem mitunter rauschhaften Verwischen der Grenze zwischen Kunst und Leben.
Ein Kinderbuch, in dem ein Kind erwacht und sich allein auf der Welt wähnt, bis es erfährt, dass das Erwachen ein Traum ist, zieht sich leitmotivisch durch den Film, weil es Braschs Lieblingsbuch gewesen sein soll.
Wenn Fantasien Realität erzeugen
Andreas Kleinert, der selbst in der DDR sozialisiert wurde, gelingt das erfrischende Kunststück, Braschs Haltung zwischen allen Stühlen zu verdoppeln und zudem die Bohème-Szene der DDR als einen Freiraum zu zeichnen, der anarchische Existenzen möglich machte, ohne deshalb die virulente staatliche Willkür zu beschönigen. „Lieber Thomas“ verzichtet darauf, sich einen schlüssigen Reim auf dieses Leben zu machen, sondern setzt auf surreale Traumlogik, in der Fantasien Realität erzeugen, auch wenn diese vielleicht nicht allgemein zugänglich sind, weil sie Hirngespinste bleiben.
Gedreht wurde „Lieber Thomas“ von Johann Feindt in dem von Brasch selbst ausdrücklich präferierten Schwarz-Weiß, erstklassig besetzt mit Albrecht Schuch, Jörg Schüttauf, Jella Haase und Ioana Iacob und zudem mit einer spannenden Filmmusik versehen. Auf diese Weise zeichnet „Lieber Thomas“ das fragmentarische Bild eines kreativen und unbestechlichen Fremdkörpers zwischen machistischer Vitalität und drogeninduzierter Selbstzerstörung.
Dass die Welt, so wie sie ist, nicht in Ordnung ist, erfährt das Kind Thomas schon in der Kadettenschule mit aller Brutalität. Später folgen die Auseinandersetzungen mit dem Vater, der als linientreuer Kommunist erkennen muss, dass seine sich gerade erst realisierende Utopie schon den Söhnen nicht mehr genügt. Dieser Generationenkonflikt, der mit der Flugblattaktion gegen den Einmarsch der Warschauer-Pakt-Staaten in die CSSR eskaliert, wird vom Vater mit scharfer Konsequenz ausgetragen. Die Wunden heilen nicht, weshalb selbst die Premiere von „Engel aus Eisen“ in Cannes für Thomas Brasch zuallererst eine Konfrontation mit dem Vater ist.
Wo ich noch nie gewesen bin
Die Zeit danach, die späten 1980er Jahre und das Jahrzehnt nach dem Mauerfall, bekommt der Film nicht mehr so recht zu fassen, weil erzählbare Verdichtungen in der Rückzugsbewegung rar werden. Wenn es in Braschs zweitem Film „Domino“ heißt: „Das Alte geht nicht, und das Neue auch nicht“, braucht man diesen Satz nur in einen Zusammenhang mit dem Ende der DDR zu rücken, um zu verstehen, dass dieses Ende Vater und Sohn Brasch gleichermaßen als Niederlage empfunden haben müssen, wobei dem im August 1989 verstorbenen Vater dies ironischerweise erspart blieb. In dem Band „Kargo“ gibt es ein Lied von Thomas Brasch, in dem es heißt: „Wo ich lebe, da will ich nicht sterben, aber / wo ich sterbe, da will ich nicht hin: / Bleiben will ich, wo ich nie gewesen bin.“ Davon handelt „Lieber Thomas“.