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Filmkritik
Am Anfang ist alles ganz einfach. Während viele mathematische Hypothesen für Mathe-Muffe schon im Ansatz schwer zu begreifen sind, gilt dies nicht für die „Goldbachsche Vermutung“. „Jede gerade Zahl, die größer als 2 ist, ist Summe zweier Primzahlen“. Das klingt ebenso knapp wie einleuchtend. Doch was leicht zu verstehen ist und damit für einen Film mit Mathematik-Bezug ideal, kann äußerst schwer zu beweisen oder zu widerlegen sein. So auch in diesem Fall: Was der deutsche Mathematiker Christian Goldbach 1742 notierte, ist rund drei Jahrhunderte später noch immer allenfalls in Ansätzen gelöst. Es ist also eine Bewährungsprobe nach Maß, an die sich in „Die Gleichung ihres Lebens“ die kluge und motivierte junge Mathematikerin Marguerite Hoffman herangetraut hat. Die Doktorandin an der Pariser École Normale Supérieure steht kurz vor ihrer Dissertation, von der sie, ihr Doktorvater Laurent Werner und auch die übrigen Studenten sich bedeutende Fortschritte in Sachen „Goldbachsche Vermutung“ versprechen.
Flucht in eine andere Welt
Außerhalb der Seminarräume wird Marguerite als exzentrische Außenseiterin geschnitten und muss Spott ertragen. Doch das ist purer Neid und von ihr leicht zu ignorieren. Echte Verunsicherung erwächst jedoch, als Werner unverhofft einen zweiten Doktoranden akzeptiert, der zum selben Thema forscht. Außerdem lässt er Marguerite gerade dann allein, als sie die Ergebnisse ihrer Arbeit öffentlich präsentieren soll. Die Folge davon ist ein Desaster. Vor versammelter Kollegenschaft weist Marguerites neuer Konkurrent Lucas ihr einen Fehler nach. Werner pflichtet ihm bei, und Marguerite flieht nicht nur von der Tafel ihrer Schande, sondern auch von der Universität.
Entschlossen, das Thema Mathematik abzuhaken, hat sie bald einen anspruchslosen Brotjob gefunden, teilt sich mit der Tänzerin Noa ein Apartment und wagt ungewohnte Schritte in eine Welt, für die sie bislang keine Zeit übrighatte. Doch natürlich kann ihr Bruch mit der Mathematik nicht von langer Dauer sein.
Die französische Regisseurin Anna Novion taucht mit ihrem dritten Spielfilm in eine Sphäre ein, der sich das Kino zumeist nur auf Umwegen nähert. Mathematiker sind mit ihrem oft abstrakten, für Laien tendenziell überfordernden Betätigungsfeld keine naheliegenden Kinohelden; mitunter halten sie wie in „Good Will Hunting“ oder „Pi“ eher als Nerds mit Persönlichkeitsstörungen her, die sich bis zu Paranoia und Wahn auswachsen können.
Neben diesen oft klischeehaften Zuschreibungen haben Filmemacher allerdings auch einen genuin filmischen Weg gefunden, die Leidenschaft von Mathematikern plastisch begreifbar zu machen. Sequenzen, in denen die Zahlenliebhaber eifrig Formeln notieren und jede Grenze von Papier oder Wänden missachten, dürfen in keinem Mathematiker-Drama fehlen.
Eine vielschichtige Protagonistin
Auch „Die Gleichung ihres Lebens“ zeigt diese euphorischen Momente im Dasein der Hauptfigur. Anna Novion und ihre drei Co-Autoren sind jedoch bemüht, Marguerite vielschichtig anzulegen. Das gelingt dem Film auf einfache, aber effektive Weise schon dadurch, dass er ihren auch in der heutigen Zeit noch bestehenden Sonderstatus als Frau in einer Männersphäre betont. Das Verhalten der fast ausschließlich männlichen Studenten ihr gegenüber und auch der zumindest menschlich fragwürdige Umgang von Werner werden als Faktoren aufgezeigt, die Marguerite weiter verunsichern müssen.
Demgegenüber platziert das Szenario geschickt den Gegensatz von anfänglicher Weltfremdheit zu den belebenden Erfahrungen, die Marguerite außerhalb des Uni-Campus macht. Bewegt die Doktorandin sich zu Beginn noch schüchtern, mausgrau und mit Hausschuhen durch die vertrauten Hochschulbauten, bewährt sie sich in ihrem neuen Umfeld mit einer erfrischenden Unverblümtheit. Dem Film trägt das witzige Szenen ein, wenn die Ordnung schätzende Marguerite mit ihrer unkompliziert denkenden Mitbewohnerin aneinandergerät, sich ohne viel Umschweife an einen Discobesucher heranmacht, um mit ihm Sex zu haben, und vor allem, als sie sich ihr mathematisches Genie auf einträgliche Weise zunutze macht. Denn in der chinesisch-stämmigen Nachbarschaft kommt es regelmäßig zu Mahjongg-Spielen um Geld, bei denen Marguerite bald die unbesiegbare Meisterin ist.
Visuell öffnet sich der Film nach dem Beginn in den beengten Uni-Räumlichkeiten immer mehr und erweitert die anfangs fade Farbpalette um leuchtende, vor allem bläuliche Töne. Marguerites Emanzipation wird auch mit einer beweglicheren Kamera umgesetzt. Anna Novion spielt die Mathematik aber nicht gegen den Rest der Welt aus, sondern legt die Erweiterungen von Marguerites Horizont als Grund an, sie mit neuen Ideen zum Kern ihrer Forschung zurückzuführen. Dafür sucht Marguerite nun von sich aus den Kontakt zu Lucas, den sie bislang als Rivalen zurückgewiesen hat, und beginnt mit ihm eine Zusammenarbeit, bei der sich beide von ihrem geteilten Enthusiasmus mitreißen lassen – und auch andere Gefühle zwischen ihnen entstehen.
Ziffern, Zeichen, Formeln
Die Elemente einer romantischen Komödie gehören zu den eher vorhersehbaren Bestandteilen des Films, doch liegt ein eigener Reiz darin, wie den zwei Rechenkünstlern im Privatleben kleine Berechnungsfehler unterlaufen und das erwünschte Ergebnis keineswegs auf glattem Weg zustande kommt. Großen Anteil am Unterhaltungsfaktor von „Die Gleichung ihres Lebens“ hat die Konzentration auf wenige, markante Charaktere. Im Mittelpunkt steht die französisch-schweizerische Darstellerin Ella Rumpf, die bislang eher für provokante Figuren bekannt war. Hier aber findet sie sich mit eindrucksvoller Wandlungsfähigkeit in die zurückhaltende, oft auch unbeholfene Marguerite ein. Rumpf und Novion loten nicht nur die Unsicherheit und aufblühende Neugier der jungen Mathematikerin aus; sie machen auch ihre Augenblicke des Triumphes und der Verzweiflung sogar dort nachvollziehbar, wo man als Nichteingeweihter in den Formeln nur noch einen Haufen Ziffern, Zeichen und Striche zu erkennen vermag. Was im Ergebnis dazu führt, dass die Rechnung hinter dem Film ziemlich glanzvoll aufgeht.