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Filmkritik
„Das Leben ist wie eine Schachtel Pralinen - man weiß nie, was man kriegt.“ In „Forrest Gump“ (1994) von Robert Zemeckis, in dem es auch um große gesellschaftspolitische Meilensteine der (westlichen) Welt ging, sind es solche Sätze, die am meisten berühren und im Gedächtnis haften bleiben. Einfache, eingängige Sentenzen, die von der Mutter des Protagonisten stammen, der nicht zu den Gescheitesten in Greenbow, Alabama zählt. Dumm ist er nicht, „denn dumm ist nur der, der Dummes tut“. Wieder so ein Spruch von Mrs. Gump, der in Erinnerung bleibt.
Eigentlich ist der zugrundeliegende Roman von Winston Groom für ein Bollywood-Remake geradezu prädestiniert. Denn Grooms Geschichte und in der Folge auch das Filmdrehbuch von Eric Roth sind so witzig wie traurig, so liebevoll wie unglaublich melodramatisch. Das sind die Grundzutaten, die auch einen guten Bollywood-Film ausmachen, von der epischen Länge einmal ganz zu schweigen.
Hauchdünn frittierte Brotbällchen
Laal Singh Chaddha ist der indische Forrest Gump, und da man in Indien gerne und lange Eisenbahn fahren kann, erzählt er seine Geschichte nicht einem, der zufällig neben ihm auf einer Bank in Savannah, Georgia auf den Bus wartet, sondern in einem vollbesetzten Abteil Richtung Mumbai, in dem man seinem Gegenüber nicht so einfach ausweichen kann; auch wenn er eine Schachtel mit Kleinigkeiten auspackt und ungefragt sein Leben offenbart. Das, was Chaddha (Aamir Khan) seiner eher mit ihrem Handy beschäftigten Nachbarin anbietet, sind keine Süßigkeiten, es sind vielmehr Panipuris, hauchdünn frittierte Brotbällchen, die wie ein Ei geköpft und mit Kartoffeln und Kichererbsen gefüllt und würzigem Tamarindenwasser garniert werden. Was eigentlich eine Sauerei ist, da man nie weiß, welche der Bällchen auslaufen und welche nicht.
„Laal Singh Chaddha“ ist eine erstaunlich werkgetreue Übertragung der US-amerikanischen Vorlage und stellt dies auch offen aus. Darauf sind die Autoren und Produzenten zurecht stolz, da es in Indien nicht üblich ist zu erwähnen, wenn man sich aus dem Fundus westlicher Filmstoffe bedient. Hier ist hingegen alles offiziell, und deshalb hat es Jahrzehnte gebraucht, bis man von der Rechteklärung zum fertigen Film gekommen ist. Natürlich mussten nichtsdestotrotz für den Kulturtransfer etliche Anpassungen vorgenommen werden, das die Originalgeschichte eine zutiefst westliche, auf die US-Geschichte bezogene ist. Der Blick von Laal Singh Chaddha, seiner Mutter und weniger Freude ist hingegen der aus dem Globalen Süden, in dem Nixon, Kennedy, Vietnamkrieg und Football keine Rolle spielen.
Ein geborener Erzähler
So sind es nicht nur die Panipuris, die den Pralinen hemmungslos den Rang ablaufen. Atul Kulkarni hat das Drehbuch auch in eine ganz andere, für Indien wichtige Zeit verlegt. Während Forrest Gump in den 1950er-Jahren geboren wurde, erblickte Laal Singh 1971 als Sohn von Gurpreet Chaddha (Mona Singh) das Licht der Welt. Die Mondlandung ist für ihn kein Datum, wohl aber der Sieg Indiens im Cricket World Cup 1983. Und das nicht nur, weil seine Mutter als einzige im Dorf einen Fernseher hatte, sondern weil spätestens da klar war, dass der kleine Laal Singh in der gleichaltrigen Rupa D‘Souza (Kareena Kapoor) seine beste Freundin fürs Leben gefunden hat.
Laal Singh hat einen langen Atem, als er seinem unbändigen Kommunikationsbedürfnis nachgibt. Und er kann gut erzählen, wie das sich immer mehr füllende Abteil und die zwischendurch sehr emotionalen Blicke auf die Gesichter der Zuhörenden beweist. Und so erzählt Laal Singh stoisch weiter aus seiner Schulzeit. Über seine Beinschienen und wie er sie loswurde, um zum Topläufer zu werden. Über Rupa, die er schon als kleiner Junge heiraten wollte und die sich über all die Jahre nie auf sein Werben einließ.
Da „Laal Singh Chaddha“ auch ein politischer Film ist, spielen die „Operation Blue Star“ (1984), die Ermordung Indira Gandhis (1984) und vor allem der Kargil-Krieg (1999) eine wichtige Rolle. Aus der Sicht eines westlichen Publikums bleiben diese Konflikte abstrakt, doch man versteht durchaus, dass das Leben eines Sikh wie Chaddha von permanenter Angst begleitet ist, da die herrschenden Hindus in den 1980er-Jahren in Indien gegenüber der Sikh-Religion ebenso wie gegenüber dem Islam zunehmend intoleranter agieren.
Wenn Todfeinde Freunde werden
Für den im Militär aufgrund seiner Befehlstreue reüssierende Laal Singh Chaddha besitzt der Kargil-Konflikt zwischen Indien und Pakistan einen ähnlichen (dramaturgischen) Stellenwert wie für Forrest Gump der Vietnamkrieg. Laal Singh Chaddha verliert seinen besten Freund Balaraju „Bala“ Bodi (Naga Chaitanya), gewinnt mit Mohammad Paaji (Manav Vij) aber einen anderen Wegbegleiter, der als „pakistanischer Terrorist“ eigentliche seinen Tod wollte, dem indischen Mustersoldaten aber sein Leben verdankt. In „Forrest Gump“ übernimmt diese für den weiteren Lebenswandel des Protagonisten so wichtige Hassfreundschaft noch ein von Gary Sinise verkörperter Platoon-Führer. Diese Änderung, dass Laal Singh Chaddas neuer bester Freund ausgerechnet ein Todfeind ist, stellt die größte Abweichung vom Originalstoff und gleichzeitig die fürs westliche Publikum auch wertvollste Änderung dar. Denn anhand der Figur des Mohammad Paaji wird die Botschaft des Films greifbar, die für Verständnis und Liebe zwischen den religiösen und politischen Gruppierungen im Vielvölkerstaat Indien wirbt und damit auch einen globalen Friedensgedanken in Zeiten des Krieges formuliert.
In anderen Dingen wirkt das indische Remake eigentümlich weichgespült, etwa bei der häuslichen Gewalt, unter der Rupa zu leiden hat, oder bei den Opfern, die Chaddas Mutter bringen muss, um ihren „behinderten“ Jungen auf eine gute (hier christliche) Schule zu geben.
Auch fehlen „Laal Singh Chaddha“ im Vergleich zu „Forrest Gump“ die absurden humoristischen Einlagen wie etwa die autistische Begabung des Protagonisten, genial Tischtennis spielen zu können. Sportlich sind indes beide Filme, denn gerannt wird exzessiv, wenn nicht gerade auf wundersam unterhaltsame Weise erzählt wird.
Ein echtes Kinoerlebnis
„Laal Singh Chaddha“ ist für einen Bollywoodfilm ein eigentümlich stilles Drama. Stiller noch als der mitunter recht offensiv nach Effekten haschende „Forrest Gump“. Trotz der sechs Gesangskompositionen haben sich die indischen Macher jeglicher Show- und Tanzeinlage enthalten. Mit fast drei Stunden Laufzeit gibt es zwar manche unnötige Länge, die durch das unverhohlen und effektiv auf große Emotionen und Tränen setzende Finale aber fast vergessen sind. Hier ist Bollywood in seinem Element und entlässt erschöpft, aber überwältigt aus dem Kinosaal, in den „Laal Singh Chaddha“ auch im Westen gehört.