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Filmkritik
Das Leben von Angela Childs (Zoë Kravitz) ist auf Kante genäht. Man kann ihr das nicht unbedingt vorwerfen, denn wenn man unter diffusen Angststörungen leidet, reicht mitunter schon ein kleines Störsignal und das Gehirn rebelliert. Allerdings hat sich die Mitdreißigerin mit diesem Zustand durchaus arrangiert. Zum Zahnarzt geht sie online, und den netten Nachbarn Terry (Byron Bowers) kann sie immer mal wieder überzeugen, zum einvernehmlichen Sex kurz herüberzukommen. Die Welt jenseits ihrer gut abschließbaren Lofts kann Angela gestohlen bleiben. Und ihr Job ist eine der besten Homeoffice-Aktivitäten, die man sich vorstellen kann.
Der Mensch dahinter
Bradley Hasling (Derek DelGaudio), der CEO der Amygdala Corporation, hatte die Stärke seines neuen und einzigen Produktes einmal „den Menschen dahinter“ bezeichnet. Angela ist so ein Mensch, und sie ist gut darin, „KIMI“ zu perfektionieren. „KIMI“ ist wie Siri oder Alexa, nur besser. Ihr sprachaktivierter Geist aus der kleinen Box im Wohnzimmer verkündet nicht nur das Wetter oder den täglichen Filmtipp, sondern ist extrem lernfähig, wenn es um die speziellen Bedürfnisse der Nutzer geht. Das liegt an Menschen wie Angela, welche die Zwiegespräche zwischen „KI“-Stimme und Abonnenten optimieren. Angeblich alles streng anonymisiert. Doch das ist ein leeres Versprechen.
„Kimi“ von Steven Soderbergh beginnt wie ein Verschwörungsthriller. Gleich eingangs wird Hasling von zwielichtigen Anrufern unter Druck gesetzt. Der Sound des Filmmusiker Cliff Martinez klingt dabei so, als hätte Hitchcock seinen Leibkomponisten Bernard Herrmann gebeten, mit ganz wenigen Takten Orchestermusik unglaublich mysteriös und bedrohlich zu tönen.
Hitchcock ist das Stichwort. Schon wenn die von Soderbergh unter seinem Pseudonym Peter Andrews bestechend konzentriert geführte Kamera durch das verschwenderisch teure und dennoch geschmackvoll gestylte Loft von Angela schwebt, weht ein Hauch von Hitchcock durch den Kinosaal. Denn auch Soderbergh versteht genau so, in sein zunächst überschaubares Setting einzuführen. Man lernt die Menschen genauso (rudimentär) durch die Fensterscheiben von Angelas Arbeitsplatz kennen wie weiland James Stewards Nachbarn in „Das Fenster zum Hof“.
Wozu die Angst doch gut ist
Wenn Hitchcock schon Internet gehabt hätte, hätte er als erzählerisches Ablenkungsmanöver sicherlich auch „KIMI“ erfunden. Denn gerade, wenn man darüber sinniert, wie die „Big Brother is watching you“-Geschichte weitergehen wird, hört Angela ein paar Files durch - und ist verstört. Es ist eine lärmende, kratzende, scheinbar undecodierbare mp3-Datei, die man gut löschen könnte, wäre da nicht Angelas durch ihre Angstattacken gut trainiertes „Bauchgefühl“. Mit ausrangierten Mischpulten aus der Abstellkammer kann sie aus der Kakophonie beunruhigende Wortfetzen extrahieren und mit Hilfe von Bekannten auf die Besitzerin der anonymen Datei schließen.
Doch Soderbergh geht es nicht um die Verteuflung von „KI“ in Form kleiner Kästchen, die auf Zuruf Wetterberichte durchsagen und ein Ohr für allzu Privates haben. Drehbuchautor David Koepp entwickelt aus den groben Eckpunkten „Big Brother“, „Agoraphobie“, „Singlehaushalt“, „Nerddasein“ und „Computerfetischismus“ vielmehr einen packenden Paranoia-Thriller.
Ist Angela auditiv Zeuge eines Mordes geworden? Und wenn ja, warum glaubt ihr niemand? Ihre Vorgesetzten, allen voran die gluckenhafte und dabei umso monströsere Natalie Chowdhury (Rita Wilson), wirken so roboterhaft gesteuert, als stammten sie aus einem Science-Fiction Film wie „Die Frauen von Stepford“. Bis Angela seltsame russischen Hackern und andere dunklen Gestalten auf die Schliche kommt. Denn im Netz bleiben investigative Aktivitäten nicht lange unbemerkt.
Der beste „Hitchcock“ seit langem
Zwei Dinge sind es, die „Kimi“ bemerkenswert machen. Zum einen, dass Koepp und Soderbergh nicht auf den Verschwörungszug aufspringen, sondern ihn als Nebelkerze nutzen, um ihr klassisches Genrekino zu kaschieren. Zum anderen präsentieren sie einen „schwachen Helden“. Der Grund dafür, warum so viele Actionfilme und Thriller in den letzten Jahren gescheitert sind, liegt in der Superheldenattitüden der handelnden Figuren. Angela hat Neurosen wie Hitchcocks Marnie oder wie Marion Crane in „Psycho“. Das macht sie verwundbar, aber gleichzeitig auch so verzweifelt stark, wenn sie aus der Reserve gelockt wird. Es ist erfrischend, wenn man der Protagonistin in „Kimi“ dabei zusieht, wie sie an ihren Ängsten wächst. Und weiß doch bis zum Ende nicht, ob sie an ihnen schlussendlich doch scheitert. „Kimi“ ist der beste Hitchcock, seitdem Handys & Co. unser Leben bestimmen. Und die Moral von der Geschicht? Die elektronischen Sklaventreiber ab und zu einfach mal ausschalten!