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Filmkritik
Wie würde man sich wohl fühlen, wenn plötzlich eine unbekannte junge Frau vor der Tür stünde und ohne Umschweife erklärte, dass sie ein Geschwister sei? Als der dreißigjährigen Afrodeutschen Ivie (Haley Louise Jones) genau dies passiert, reagiert sie zunächst verdattert, lacht dann und schlägt prompt die Wohnungstür zu. Doch die ungebetene Besucherin lässt sich so wenig abschütteln, wie sich die Wahrheit verleugnen lässt: Ivie und Naomi, die Überbringerin der verwirrenden Botschaft, sind Halbschwestern; sie haben denselben Vater. Dieser ist gerade im Senegal gestorben. Naomi (Lorna Ishema) wurde zur Trauerfeier nach Dakar eingeladen; jetzt will sie Ivie mitnehmen.
Die Situation stellt sich allerdings um einiges komplizierter dar. Der zweite Spielfilm von Sarah Blaßkiewitz handelt von zwei ungleichen Biografien afrodeutscher Frauen in Deutschland, von (unbekannter) Familie und neu zu findender Identität. Im Zentrum steht die ältere der beiden Schwestern, Ivie. Sie lebt in Leipzig mit ihrer besten Freundin Anne zusammen, die Ivie „Schoko“ nennt und sich dabei nichts Böses denkt. Mit Ivies Ex-Freund Ingo bilden die beiden Frauen eine eingeschworene Dreierclique, in der Ivies abwesender Vater offenbar nie ein Thema war.
Eine Frage der Hautfarbe
Zum Thema wird die Hautfarbe der angehenden Lehrerin allerdings immer dann, wenn sie zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen wird. Dann reden ihre potenziellen Arbeitgeber davon, wie schön sie es fänden, eine Lehrerin aus einem „anderen Kulturkreis“ bei sich in der Schule zu haben. Eine stellvertretende Direktorin lobt Ivies gutes Deutsch, und auch die obligatorische Frage, wo sie denn eigentlich herkomme, muss die junge Leipzigerin über sich ergehen lassen.
Diese Szenen wirken wie ein „Worst of“ der alltäglichen Rassismus-Erfahrungen nichtweißer Deutscher, und man mag nicht glauben, dass Ivie der Widerspruch zwischen Selbstwahrnehmung und vorurteilsbehafteter Fremdwahrnehmung nicht schon früher aufgefallen ist. Ebenso wenig plausibel erscheint es, dass erst die neue Schwester Ivies Neugierde auf eine immerhin ganze Hälfte ihrer Herkunft weckt. Doch in Ivies Leben gibt es viel Ungesagtes, Unbenanntes und offenbar auch heftig Verdrängtes. Erst viel später finden sich im Film Erklärungen für diese weißen Flecken in Ivies Biografie, was eine Figur rehabilitiert, für deren scheinbar teilnahmsloses Schweigen man anfangs wenig Verständnis aufbringt.
Doch zunächst erzählt Blaßkiewitz von der Annäherung der beiden Schwestern: Sie unterhalten sich über Gott und die Welt und tauschen sich über Beziehungen aus. Bald offenbaren sich auch Unterschiede zwischen ihnen. Naomi kommt aus Berlin, hat im Unterschied zu Ivie auch eine afrodeutsche Mutter (Sheri Hagen) und ist abenteuerlustiger als ihre Schwester. Gegenseitige Sympathie und die neu entdeckte Verwandtschaft schweißen zusammen, doch die vermeintliche Beziehung zu dem großen Unbekannten, dem gemeinsamen Vater, weckt auch Begehrlichkeiten und Eifersucht.
Zwischen allen Stühlen
Ivies Selbstbild gerät ins Wanken. Sie nimmt durch den Einfluss der Schwester fortan unterschwelligen oder offen zutage tretenden Rassismus bewusster wahr. Naomi wiederum wird in der sächsischen Großstadt von zwei Männern rassistisch angegriffen und nur durch eine junge Frau vor Schlimmerem bewahrt. Die Polizei zeigt weder Empathie noch die Bereitschaft, die Täter ausfindig zu machen. So kommt Leipzig durch Naomis Perspektive auf die Stadt nicht gut weg, während der Blick auf Berlin als hippe und weltoffene Metropole ein wenig zu schmeichelhaft ausfällt.
Ivies Neufindung funktioniert anfangs über Gefühle: Streitereien mit Schwester, Mutter und Freunden lassen sie zunächst als eine sehr einsame Protagonistin erscheinen, die zwischen allen Stühlen sitzt. Ihre Suche nach sich selbst äußert sich auch über das Ausprobieren eines neuen Looks: Zöpfchen statt Lockenmähne und ein von der Schwester geklauter afrikanischer Hosenanzug. Doch die wahre Wandlung findet durch eine geschärfte Wahrnehmung und eine innere Reflexion statt. So entdeckt Ivie neue Facetten ihrer Heimatstadt Leipzig, etwa einen Frisiersalon für Schwarze, in dem die Eigentümerin ihr erklärt, dass ihr mit „ie“ geschriebener Name „precious“, also „kostbar“ bedeute.
Ein Familienfilm der anderen Art
Zuweilen geraten die Konfrontationen zwischen den Schwestern oder Ivies Identitätsfindung zu plötzlich oder zu demonstrativ, werden Merksätze aufgesagt oder ein Symbolismus bemüht. Dennoch kann man sich in den Zwiespalt der Protagonistin gut hineinversetzen: Sie will dazugehören, sich in ihrer Differenz aber auch positiv positionieren. Auch die emotionale Verletzung durch einen abwesenden Vater macht die Identifizierung mit ihm und den Weg zu einer Selbstbestimmung schwierig. Cinephile Zuschauer können außerdem Parallelen zwischen Ivies fiktivem, aber glaubwürdigem Werdegang und der Biografie von Ines Johnson-Spain entdecken. Die war das erste schwarze Mode-Model in der DDR und schilderte in dem Dokumentarfilm „Becoming Black“ (2019), wie man ihr ihre afrikanischen Wurzeln väterlicherseits vorenthielt.
„Ivie wie Ivie“ hält trotz aller Hürden die Möglichkeit einer positiven Identität – und Familienerweiterung – für die Protagonistin offen. Dabei verfällt die Inszenierung nicht in narrative Genremuster wie einer glücklichen Familienzusammenführung, sondern bleibt realistisch. Sarah Blaßkiewitz gestaltet ihren Familienfilm der anderen Art mal beschwingt, mal intensiver und vermittelt nebenbei auch ein gutes Bild jungen Großstädter/innen zwischen prekären Beschäftigungen, Vergnügen und beruflicher Selbstverwirklichung. Nicht zuletzt lebt der Film auch von seinen guten Schauspielerinnen, wobei Haley Louise Jones, Lorna Ishema und Anneke Kim Sarnau als Ivies Mutter hervorstechen.