Kekse und Popcorn für ein großartiges Kinoerlebnis

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Filmplakat von Ich Ich Ich

Ich Ich Ich

84 min | Drama, Komödie
Szene %1 aus %Ich Ich Ich
Eine Frau bekommt vor ihrer ganzen Familie einen Heiratsantrag von ihrem Freund, was sie in eine tiefe Krise stürzt. Um sich zu sammeln fährt sie aufs Land, wo sie ihre personifizierten, widerstreitenden Gedanken ordnen muss.

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Filmkritik

Familienfeiern an abgelegenen Orten haben aufgrund fehlender Ausweichmöglichkeiten ein prädestiniertes Eskalationspotential. Dieses Szenario lässt sich noch einmal steigern, wenn man sich eine große Hochzeitsgesellschaft auf einem gemieteten Schiff vorstellt, das erst am Ende der Feierlichkeiten wieder anlegt. Unbarmherzig dirigiert vom Fotografen, drängen sich Gäste am Bug zusammen, um eine Aufnahme für die Ewigkeit ins Bild zu setzen. Doch zwei von ihnen fehlen. Der Vater des Bräutigams gibt keine Ruhe, bis auch sein ältester Sohn Julian (Thomas Fränzel) mit seiner Freundin Marie (Elisa Plüss) sich an den dicht gedrängten Körpern vorbei auf den für ihn vorgesehenen Platz gequetscht hat. Eine Dynamik sozialen Drucks gerät ins Rollen. Als Julian wenig später sein Glas für eine Tischrede anschlägt, spürt man, dass eine Art Kriegserklärung bevorsteht. Sie verwirklicht sich in Form eines spontanen Heiratsantrags an Marie – vor den Augen des entgeisterten Bruders und dem bestürzten Rest der Familie.

Es sind Situationen, die gerade im deutschen Film sehr schnell in peinlichen Klamauk umschlagen können. Umso mehr staunt man, wie bei Zora Rux’ Langfilmdebüt „Ich Ich Ich“ jede Einstellung mit sensiblem Understatement genau den richtigen Ton trifft. Dass man sich dabei auch ein wenig an das skandinavische Kino erinnert fühlt, erklärt sich vielleicht durch die langjährige Zusammenarbeit der Regisseurin mit dem Schweden Roy Andersson. Neben ihrem Studium an der DFFB hat sie für den Film „Eine Taube sitzt auf einem Zweig und denkt über das Leben nach“ als Casting-Direktorin gearbeitet.

Ein Haufen Gedanken

Auch die überrumpelte Hauptfigur Marie sitzt fest und braucht nach diesem Schuss ins Blaue erst einmal Zeit und Raum, um sich über die Konsequenzen dieser Anfrage Gedanken zu machen. Denn anstatt im Reflex und aus affektiver Überforderung einfach „Ja“ zu sagen, tut Marie etwas in heutiger Zeit fast schon Revolutionäres: Sie schweigt und flüstert Julian schließlich ein „Ich weiß es nicht“ ins Ohr. Die Frage offenzuhalten, gerade so eine persönliche und existenzielle, gerät zur ultimativen Provokation all derer, die von Marie etwas Bestimmtes hören wollen. Dazu zählt natürlich auch ihr Möchtegern-Ehemann in spe. Um Klarheit zu gewinnen, beschließt Marie, einige Zeit auf den abgelegenen Hof ihrer Mutter in Brandenburg zu fahren. Und wie sich das bei so einer gewollten Regression erwarten lässt, figurieren sich dadurch eher die Unklarheiten, in Form von widersprüchlichen und intrusiven Gedanken. Hier beginnt der wunderbare Clou des ganzen Films, der die Psyche seiner Protagonistin ernst nimmt: Er setzt diese Gedanken als Verkörperungen in Szene, als redende Personen, die Marie wie ein ganzes Ensemble an fleischgewordenen Zweifeln belagern.

Ein Gedankenhaufen liegt auf dem Bett herum neben Marie, darunter sind ehemalige Liebhaber, ihre beste Freundin und natürlich die eigene Mutter. Die Stimmen sprechen unablässig, fordernd, manchmal durcheinander, sodass Marie sie gelegentlich mit einer Armbewegung wieder wegwischt. Sie sind Spuren aller, mit denen sie ihr Leben geteilt hat, und deren Echo in ihr nachhallt. Lassen sich aus diesen Residuen Ratschläge oder Schlussfolgerungen ziehen? Oder gewinnen die Gedankenmenschen ein Eigenleben, das Marie belagert und verfolgt? Sind sie Zeichen einer Ich-Schwäche oder zeugen sie von der Reichhaltigkeit einer subjektiven Erfahrung, die sich vom Anderen her denkt?

Die innere Gedankenpolizei

In der beschaulichen Ruhe des Landguts trifft schließlich auch Julian ein, der das Warten nicht mehr allein aushält. Auch er hat seine Gedankenmenschen mitgebracht, die konsequenterweise wie ein patrilineares Über-Ich inklusive Polizeieinheit daherkommen. So stehen fortan sein Vater und seine beiden Brüder bei jeder Szene skeptisch kommentierend neben ihm. Besonders gelungen ist das in der Konstellation mit Julians romantischer Facebook-Bekanntschaft „Nata Lia“ (Henriette Confurius), einer Öko-Backpackerin, die sich auch nicht für ihn entscheiden wollte. Als er einem erotischen Gedanken an sie nachhängt, stürzen sich zwei Einsatzkräfte auf Natalias Manifestation und zischen: „Du bist ein sexualisiertes und objektifiziertes Bild von dir, das so nicht verbreitet werden darf.“ Dass die Angst, einer „toxischen Männlichkeit“ anzugehören, sich bereits als eigene psychische Instanz abzeichnet, ist nur eine der vielen genauen Beobachtungen, mit der Zora Rux Zeitgeistiges gelungen zuspitzt.

Eine weitere zeigt sich in Form einer eingeblendeten Social-Media-Pause, die den Film nach vierzig Minuten unterbricht und Zuschauer dazu einlädt, ohne Scham die verpassten Push-Benachrichtigungen zu checken. Wenig später steht Marie in einem dunklen Wald voller hellerleuchteter Bildschirme und bekommt von einem übergriffigen Medienmenschen einen Gedanken eingeflößt. Ob es nicht verführerisch wäre, anderen Personen ohne jede Vermittlung ein Bild von sich zu implantieren, das man von sich erschaffen hat? Wäre das nicht eine Möglichkeit, die ganze Welt selbstbestimmter und gerechter zu machen? Marie ist nicht überzeugt. Als sie nach einer Möglichkeit fragt, auch keine Bilder zu versenden, versteht der „Gedankenschaltzentralenverkäufer“, wie er im Abspann heißt, Maries Anliegen nicht. Das bringt in nur einem Dialog das Problem der Sozialen Netzwerke auf den Punkt, die jeden Akt der Kommunikation positivieren und monetarisieren, lange bevor das Bewusstsein dies realisieren kann.

Rückeroberte Zeit

 

Sind Maries wuchernde Gedanken schon Ausdruck einer so beschleunigten Kommunikationsgesellschaft, in der das unablässige Rauschen der Plattformkanäle das Ich hinwegspült? Oder ist sie nicht eher ein unzeitgemäßer Gegenentwurf, der sich die verlorene Zeit zurückerobert und dem Geschmack der Vergangenheit nachspürt wie einer Proust’schen Madeleine? Und der eine ältere Dame im indischen Sari als ihr lyrisches Ich auftreten lässt, das sich dem eigenen Pathos hingibt, anstatt an einem glatten und gefälligen Image zu arbeiten, wie es so viele tun? Zora Rux schafft mit ihren Tableaux vivants einen mentalen Raum, in dem sich szenische Konstellationen so allmählich entfalten können wie ein assoziativer Gedankengang. In ihm blitzt immer wieder fabelhafte Situationskomik auf, ebenso wie berückende Bildideen.

Wenn zwei miteinander schlafen, das weiß die Psychoanalyse, sind immer mindestens vier im Bett: Die leiblich Anwesenden und die Imaginierten oder die als innere Instanz Verkörperten. Ein Skript, das die Dramatik der meisten Paarbeziehungen antreibt, findet in „Ich Ich Ich“ seine vielleicht schönste und originellste Realisierung.

Erschienen auf filmdienst.deIch Ich IchVon: Silvia Bahl (5.12.2022)
Vorsicht Spoiler-Alarm!Diese Filmkritik könnte Hinweise auf wichtige Handlungselemente enthalten.
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