- RegieHelena Wittmann
- Dauer106 Minuten
- GenreDrama
- Cast
- TMDb Rating6/10 (2) Stimmen
Vorstellungen
Leider gibt es keine Kinos.
Filmkritik
Der Aufbruch in den offenen Raum kann von unterschiedlichem Begehren getragen sein. Von dem elementaren Bedürfnis nach Bewegungsfreiheit etwa, der Sehnsucht nach der Fremde oder dem Interesse für Unbekanntes, dem Wunsch nach Durchlässigkeit und veränderter Selbstwahrnehmung. Abenteuer- und Entdeckungsdrang, das hat die Vergangenheit gelehrt, sind jedoch keine unschuldigen Triebkräfte. Der Aufbruch in den Raum ist auch eine Geschichte territorialer Expansion und Inbesitznahme. Bekanntermaßen waren Wissenschaft und Forschung eng mit dem kolonialen Projekt verbunden. Das ist die gewalttätige Geschichte. Beide Raumverhältnisse sind in „Human Flowers of Flesh“ von Helena Wittmann eingelassen.
Ein Echoraum für Vieles
„Wir brauchen Sonnenschein, wir brauchen Raum, um unsere Leichen zu bräunen, wir, die Elenden der Erde, wir, die Verwundeten aller Kriege“, heißt es im Gesang der Fremdenlegionäre. Ida hört ihn, als sie im Marseiller Vorort Aubagne ein umzäuntes Quartier passiert. Zuvor schon waren Geschichten über die „Légion étrangère“, oder eher Fragmente von Geschichten, wie Treibgut in die Handlung geschwappt. Sie haben mit Körpern zu tun, mit physischen Kräften, mit Widerstand. So ist etwa von einem Legionär die Rede, der sich wie ein Verrückter immer wieder in die Wellen stürzte, als wolle er den Kampf mit dem Wasser aufnehmen. Man musste ihn mit Gewalt aus dem Meer ziehen. Der Film setzt sich zu diesen von verschiedenen Figuren erzählten Geschichten in ein Verhältnis. Er stellt ihnen Bilder zur Seite. Andere Bilder. Und andere Körperlichkeiten. „Human Flowers of Flesh“ ist nicht nur in dieser Hinsicht ein Echoraum.
Ida (Angeliki Papoulia) ist mit einer fünfköpfigen Crew auf einem Segelschiff im Mittelmeer unterwegs. Ihre „Truppe“, wie sie der gealterte Legionär Galoup (Denis Lavant) am Ende des Films nennt, besteht ausschließlich aus Männern; auch Galoup, eine ikonische Figur aus „Beau Travail“ (1999) von Claire Denis, ist weniger eine filmische Referenz als ein in Wittmans Erzählung gestrandetes und dort weiterexistierendes Lebewesen. Die Mannschaft verkörpert eine andere Form von Maskulinität: sanft, zugewandt, im Einklang mit den anderen, aber doch eher für sich. Oft sieht man die Männer vor sich hindämmern oder schlafen. Die unterschiedliche Herkunft der Figuren aus Portugal, Brasilien, Deutschland, Tschechien, Algerien und Griechenland mag im Detail nicht bedeutungsvoll sein, steht aber doch programmatisch für Wittmanns Idee eines Kinos, das sich aus unterschiedlichen – auch (film)sprachlichen – Elementen zusammensetzt und dabei das einzelne Teil auch Teil sein lässt. Grenzen lösen sich in „Human Flowers of Flesh“ auf, aber die Dinge synthetisieren sich nicht. Alles bleibt in seinem „So-Sein“.
Bis ins Innere der Materie
Die Erzählung des Films lässt sich am ehesten als eine Bewegung beschreiben. Geografisch führt sie von Marseille an der französischen Küste entlang über Korsika in die algerische Stadt Sidi bel Abbès, wo sich bis 1962 das Hauptquartier der Fremdenlegion befand. Es gibt aber auch andere Bewegungen. Angefangen vom Titel des Films, der in verschiedene Bedeutungsfelder führt, die sich nicht zu einem logischen Ganzen fügen und der in der prägnanten Typografie Widerhall findet (die geschwungenen Buchstaben des Titels sind mit dem Meer und der Abschweifung gedacht) bis hin zu den Pfaden in die Literatur, in die Mythengeschichte und in diverse Verästelungen des Kinos, vom Trancefilm der historischen Avantgarde über den Abenteuerfilm bis hin zum posthumanistischen Experiment.
Dazu kommen die Bewegungen über dem Wasser, im schwankenden Rhythmus des Schiffes, nach oben in den Himmel, wo Fallschirmjäger wie schwebende Pilze zu Boden sinken, oder hinab zum Meeresgrund, wo sich neues Leben am Triebwerk eines Flugzeugswracks angesiedelt hat. Und zuletzt, in Gestalt von mikroskopischen Aufnahmen, tief ins Innere der Materie hinein.
„Human Flowers of Flesh“ ist bei aller Ausdehnung jedoch alles andere als ein raumgreifender, verschwenderischer und groß auftretender Film. Der Raum, so sagen die Bilder des Films, ist nichts, was einem zusteht, anders als es im Lied der Legionäre zum Ausdruck gebracht wird, die wehmütig einen Verlust (das „alte Europa“, Algerien) beklagen und Ansprüche auf die Wüste verkünden („uns die Wüste, so wie das Meer dem Seemann"). Hinter Wittmanns präziser Arbeit mit beschränkten Bildausschnitten an Stelle panoramatischer Überblicke steht insofern auch eine politische Haltung; die Regisseurin führt wie immer in ihren Filmen die Kamera selbst
Fragmente, die sich nicht zusammenfügen
Gleich die erste Einstellung ist die Umkehrung eines aufs Meer gerichteten Fernblicks. Der Ausschnitt eines weißen Kalksteinfelsens der Calanques füllt das gesamte Bild, das nacheinander von den Füßen der Figuren betreten wird; erst dann sind Ida und drei Männer ihrer Gruppe beim Abstieg an die Küste zu sehen. Zu Wittmanns „Ethik“ der Beschränkung gehört auch das Auflösen traditioneller Blickökonomien. Auf der lauten Terrasse einer Bar am Hafen von Marseille betrachtet man Ida lange beim Zuhören; die Adressaten ihrer Blicke aber bleiben verborgen. In einer anderen Einstellung drängen sich die Körper der Legionäre ins Bild. Der Film verzichtet jedoch auf die affektive Aufladung und Verführungskraft, mit der andere Filmemacher:innen, etwa Claire Denis, arbeiten. Gezeigt werden Fragmente, die keiner Subjektiven zuzuordnen sind, und die gerade so viel preisgeben, um Projektionen in Gang zu setzen (aber zu wenig, um die Körper objektifizieren zu können).
Anders als in ihrem fluiden Vorgängerfilm „Drift“ wirken die Bilder in „Human Flowers of Flesh“ eher gebaut und in ihrer Materialität (gedreht wurde auf 16mm) konkret und haptisch. Es sind aufmerksame Beobachtungen von Landschaft, Wasser und Menschen auf begrenztem Raum, von Licht und Schatten, Tag und Nacht. Von Figuren bei alltäglichen Handlungen und Arbeit – Bügeln, das Entlüften von Ventilen, das Hissen der Segel – sowie bei eher unbestimmten Tätigkeiten zwischen Zeitvertreib, ästhetischer Erfahrung und quasi-wissenschaftlichem Interesse. Meeresgebilde wie Korallen werden aus dem Meer geholt und betrachtet, Blätter in ein Album gepresst und getrocknet. Ida sieht sich alte Postkarten von Sidi bel Abbès an, die Legionäre in ihre französische Heimat geschickt haben, ein Schriftsteller liest Gedichte und Auszüge aus Romanen vor. Die Texte erzeugen Bilder und Klänge, die sich mit anderen Bildern und Klängen verweben. Meeresrauschen, Maschinengeräusche, das Knarzen der Segel: Die Geräusche des Schiffes – die Musikerin und Sounddesignerin Nika Son hat den Ton komponiert - sind allgegenwärtig und verwandeln das Gefährt in einen vielstimmigen Klangkörper.
Ohne Hierarchien und Ordnungen
Falls es im ersten Teil annähernd so etwas ein Erzählzentrum gibt, so löst sich dies im Laufe des Films immer mehr auf. Auch die Bilder werden traumhafter, poröser und gleichzeitig lebenden Organismen ähnlicher. „Human Flowers of Flesh“ ist ein Werk des gleichberechtigten Nebeneinanders. In der Co-Existenz von Meer, Landschaft, Menschen, politischer Geschichte und Kunst, dem großen Ganzen und dem nur mikroskopisch sichtbaren Detail verlieren sich Hierarchien und binäre Ordnungen. Darin liegt auch eine utopische Kraft. Man kann mit dem Film denken und sich gleichzeitig in ihm verlieren.