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Filmkritik
Das Bier ganz außen an der Theke gehört Heiko. In seiner Berliner Stammkneipe muss der rundliche Zeitgenosse nicht lange warten, um seinen Durst zu stillen; das erste Glas steht schon bereit. Es bleibt nie bei einem, denn der gutmütige Mann hat viel Zeit totzuschlagen und wenig andere Ideen, was er damit anstellen könnte. Der Hartz-IV-Empfänger wohnt noch bei seiner Mutter, hat nie einen Schulabschluss gemacht und geht nach einer Schulterverletzung auch keiner regelmäßigen Arbeit mehr nach. Wenn er etwas verdienen will, macht er für den halbseidenen Freund seines verstorbenen Vaters den Zwischenhändler und dreht anderen Kneipengängern angeblich edle Armbanduhren und andere fragwürdige Waren an.
Doch bei denen kommt Heiko mit seinem „Schrott“ nicht an, obwohl er in dieser Gesellschaft trotz des rauen Tonfalls durchaus auf Sympathie zählen kann. Das zeigt sich, als er eine überraschende Gabe entdeckt. Sobald er sich nämlich mit einer gewissen Menge Bier und dem Berliner Kultdrink Futschi gestärkt hat, wird er zum treffsicheren Dartwerfer. Das verspricht ihm eine seltene Möglichkeit zum Strahlen; bei der Kneipenmeisterschaft könnte er als Sieger 5000 Euro gewinnen.
Ein schwatzhaftes Kiez-Original
Tuchfühlung mit Sportarten hatte die von dem Laiendarsteller Martin Rohde gespielte Figur des Heiko – neben Einblicken in Trink-, Ess- und Kochgewohnheiten – schon in einigen der kurzen Videos, mit denen sich das schwatzhafte Kiez-Original eine kleine Youtube-Fangemeinde erworben hat und Werbeträger einer Berliner Brauerei wurde. Den betont unspektakulären Stil der Kurzvideos hat Regisseur Dominik Galizia beim Spielfilmdebüt der Figur allerdings nicht beibehalten. „Heikos Welt“ etabliert mit der Chance auf einen sportlichen Triumph (wenn auch in bescheidenem Ausmaß) schnell ein gut funktionierendes Szenario mit den Motiven eines typischen Underdog-Aufstiegsfilms.
Das Milieu der vom Leben gebeutelten Eckkneipen-Stammgäste sorgt dabei für einen eher ungewohnten Rahmen, dessen Selbstverständnis sich aber leicht erschließt. Der Rückgriff auf leistungssteigernde Mittel erscheint hier nicht als unfaires Doping, sondern als erlaubter und geradezu notwendiger Kniff, ohne den der Sympathieträger im Zentrum schlicht verloren wäre.
Parallel zum Fortgang der Dartspiele steigert sich zwischen den Protagonisten und seinen Kontrahenten überdies der Austausch deftiger Beleidigungen, die kleine Highlights des Films sind. Insbesondere Heikos gelassene Lakonie, die er auch in anderen Lebenssituationen beweist, macht ihn zur charismatischen Hauptfigur, die den Film trägt und über die flüchtige Unterhaltsamkeit der Video-Vorgänger weit hinausgeht.
Und das umso mehr, als die Inszenierung sich nicht damit begnügt, einschlägige Filmvorbilder einfach in der Dartversion nachzuspielen oder mit der Täuschungsmanöver-Taktik in der Nachfolge von „Haie der Großstadt“ zu verbinden: Herausgeforderte Gegner werden erst durch ein schwaches Spiel in Sicherheit gewogen, um dann bei erhöhtem Einsatz das wahre Können des vermeintlichen Maulhelden kennenzulernen.
Der wurfsichere „Jadefuchs“
Nachdem Heiko seinen idealen Alkoholpegel fürs meisterliche Werfen gefunden hat, wendet er diesen Trick in den Kiez-Kneipen eine Zeitlang mit Erfolg an. Allerdings erlebt er dann eine ernüchternde Überraschung, als eine junge Frau schlicht besser ist als er und ihn auch noch schlägt, als er schon fest mit seinem Sieg rechnet. So kommt es zum interessanten Bruch in der Handlung, der „Heikos Welt“ einen weiteren Impuls gibt und die Vorbereitung auf das große Dartfinale vorerst hintanstellt. Denn die wurfsichere Frau mit dem schillernden Namen „Jadefuchs“ ist für Heikos recht verzweifeltes Drängen durchaus zugänglich, auf ihre Teilnahme an dem Turnier zu verzichten. Nach einem Treffen und einem Test verpflichtet sie ihn als Partner bei einem schrägen Einbruchsdiebstahl mit prominentem Opfer (Schlager-Altstar Roberto Blanco als Gast); im Gegenzug will sie Heikos Chance auf den Dartsieg nicht im Wege stehen. Heiko plant also den Coup, was neben amüsantem Amateur-Verbrechertum auch unbeholfene Annäherungsversuche an seine „Partnerin in Crime“ beinhaltet, deren Absichten lange in der Schwebe bleiben.
Martin Rohde schafft es, die reine Skurrilität der Heiko-Figur hinter sich zu lassen und ihr eine bemerkenswerte Tiefe zu geben, wie sie in einer launigen Low-Budget-Kiezkomödie kaum zu erwarten war. Dazu tragen insbesondere auch die gemeinsamen Momente mit seiner von Heike Hanold-Lynch ebenfalls ausgezeichnet gespielten Film-Mutter Belinda bei. Die Herzlichkeit dieses Mutter-Sohn-Verhältnisses entfaltet Regisseur Galizia in pointierten Alltagssequenzen. Heikos Eigenschaft, nie um einen Spruch verlegen zu sein, offenbart sich hier in Gestalt warmherziger Aufmunterung für die gleichfalls nicht vom Glück verfolgte Mutter, deren Schicksal auch der Grund für die Hoffnung auf das Dart-Preisgeld ist. Denn Belinda droht zu erblinden. Eine Hornhaut-Transplantation könnte das verhindern, doch dafür haben Mutter und Sohn eben nicht ohne Weiteres das Geld.
„Heikos Welt“ zeigt die Dramatik der Situation, wenn Belinda durch ihre Seheinschränkung falsche Zutaten ins Essen mischt oder bei Fernsehsendungen nur noch die Stimme des Sprechers genießen kann. Heikos aufrichtiger Wunsch zu helfen hält die verschiedenen Stränge des spürbar mit Herzblut inszenierten Films zusammen, der sich keinen konfektionierten Strukturen unterordnet. Weshalb er mit zwei Stunden auch ein weniger länger dauert, als es für die Handlung nötig gewesen wäre, nicht alles mit hundertprozentiger Schlüssigkeit auflöst und vom Einbruchsplot etwas holprig zum Dart zurücklenkt.
Die Würde des Prekariats
Doch das sind geringe Makel eines Kleinods im deutschen Kinoallerlei, das beachtlich selbstbewusst inszeniert ist. Dominik Galizia, der außer Werbespots und Musikvideos zuvor nur das eigensinnige Drama „Figaros Wölfe“ umgesetzt hat, setzt nicht nur auf schnoddrige Dialoge und originelle Figuren, sondern verrät auch als Regisseur Ambitionen und Können. Die Dartszenen besitzen spannende Perspektivwechsel, die Kamera gleitet mal flüssig durch die Kneipen, mal setzt sie Heikos Delirium in desorientierende Bilder um. Und wenn seine Mutter und er in der Küche sitzen, verleiht warmes Licht dem bescheidenen Ambiente eine Schönheit des Augenblicks, die mehr über die Würde des Prekariats erzählt als manches wohlmeinende Milieudrama.