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Filmkritik
Wenige Tage vor ihrem 18. Geburtstag wird Hazal (Melia Kara) beim Klauen in der Drogerie erwischt. Sie muss 100 Euro Strafe zahlen; der Kaufhausdetektiv hatte gedroht, ihre Eltern zu benachrichtigen. Ob der das mit der Strafe überhaupt dürfe, fragen ihre Freundinnen Gül und Elma. Jetzt ist das Geld für ihre Geburtstagsfeier jedenfalls futsch. Doch Hazal will trotzdem feiern. Denn in ihrem Leben gibt es sonst nicht viel, was Freude macht. Sie schreibt Bewerbungen, doch niemand lädt sie zu einem Gespräch ein. Hazals Eltern sind Türken, sie wurde in Berlin geboren. Zu Hause in der Wohnung im Stadtteil Wedding wird ihr Bruder wie ein kleiner Prinz behandelt, während sie putzt und ständig das Gezeter ihrer Mutter ertragen muss. Sie habe ja nicht lernen wollen und es zu nichts gebracht. Dabei ist es Hazals sehnlichster Wunsch, endlich aus der Enge des Elternhauses auszubrechen. Außerdem hat sie einen Freund, wenn auch nur einen virtuellen. Er heißt Mehmet (Doğa Gürer), ist älter als sie und arbeitet in Istanbul in einem Callcenter.
Mit dem Bus nach Istanbul
An ihrem Geburtstag erträgt Hazal missmutig ihre Verwandten, bläst brav die Kerzen auf der Geburtstagstorte aus und schafft es schließlich, aus der Wohnung herauszukommen. Die Freundinnen haben auf sie gewartet. Sie wollen groß ausgehen; Hazal bekommt von ihnen ein schickes Kleid geschenkt, ein Peeling gibt es auch. Aufgebrezelt und voller Hoffnung warten die Mädchen danach in der Schlange vor einem Club. Doch am Einlass werden sie abgewiesen. Darauf gibt es Streit. Zunächst unter den Freundinnen, dann auf dem Bahnsteig des U-Bahnhofs. Ein besoffener Student pöbelt das Trio an. Es kommt zu Schlägen und Tritten. Irgendwann landet der junge Mann wohl auf den Gleisen. Doch Hazal sieht es nicht mehr, weil sie abhaut. Sie plündert die Kasse ihres Brotjobs und fährt mit dem Bus nach Istanbul; sie ist nun ja volljährig. Dort kommt sie bei Mehmet unter, wird sein „Mädchen“. Doch was soll sie in der riesigen Stadt, die ihr fremd ist? Und was ist in Berlin tatsächlich geschehen?
Die Regisseurin Aslı Özarslan hat mit „Ellbogen“ den gleichnamigen Roman von Fatma Aydemir adaptiert. Im Mittelpunkt steht eine zerrissene, wütende junge Protagonistin. Ständig gerät sie zwischen die Stühle, ist weder richtige Türkin noch richtige Deutsche. Sie wird in ihrem Elternhaus bevormundet und hat kein Geld, um auszubrechen. Die Rastlosigkeit der jungen Heldin fängt die Kamera schon in den ersten Minuten ein. Die Großaufnahmen der Mädchen wackeln stark, sie alle haben eine migrantische Identität und unterhalten sich über Jungs, Klamotten und ihre Berufsaussichten; so überlegt Gül, ob sie lieber Prostituierte oder Polizistin werden soll.
Verloren in Istanbul
Im Unterschied zum Buch macht die Handlung in Berlin im Film nur etwa ein Drittel aus. Der Roman beschrieb ausführlich Hazals Frust zwischen ihrem Job in der Bäckerei, dem Teekochen und Putzen für die Eltern zu Hause und ihren Kontakten zu anderen migrantischen Berlinern, etwa einem russischstämmigen Dealer. Im Film genügt es, die jungen Gesichter der Protagonistinnen einzublenden. Vor allem der Blick von Hazal spiegelt Aufmüpfigkeit, Stolz, Ambitionen, aber auch eine tiefsitzende Frustration wider. Im Gegensatz zu ihrer Tante Semra (Mina Sağdıç), die es als Akademikerin zu etwas gebracht hat, winkt Hazal ein schlecht bezahltes Berufsleben.
Auf die Perspektivlosigkeit in Berlin folgt die Heimatlosigkeit in Istanbul. Abseits der touristischen Hotspots filmt Özarslan ein uriges Istanbuler Viertel mit Gassen, Obsthändlern und Ritualen, die Hazal staunend erkundet. Als Hazal am frühen Morgen vom Tanzen aus einem Club kommt, findet in einem Café ein Vogelzwitscher-Event statt. Die Hobby-Ornithologen lauschen den Geräuschen der Singvögel; Hazal schaut anerkennend und lernend zu. Sie muss sich in dem neuen Milieu zurechtfinden. Zwar spricht sie die Landessprache, hat einen türkischen Pass, doch Türkisch ist nur ihre zweite Sprache. Sie habe einen süßen Akzent, wie die meisten Türken aus Deutschland, behauptet die Freundin von Mehmets kurdischem Mitbewohner. Der schüttelt den Kopf über Hazals Ahnungslosigkeit, vor allem über die türkische Politik. Offenbar weiß sie kaum etwas von ihren eigenen kurdischen Wurzeln oder von der Gefahr, in der Oppositionelle in der Türkei leben.
Schuld & Selbstsein
Aus der privaten Tragödie in Deutschland wird sie in eine politisch brisante Lage in der Türkei geschleudert, die sie ebenso wenig durchschaut wie die ungeschriebenen Regeln in Deutschland. Sie bleibt eine Gehetzte, hier wie dort. In Zeiten des Internets lassen sich Spuren schlecht verwischen; es lässt sich herausfinden, was man in der Vergangenheit zurückließ. Hazal wird von Schuld und Trotz gleichermaßen aufgewühlt. Doch ein Schuldeingeständnis würde ihrem Streben nach Selbstständigkeit im Weg stehen. Ob bei ihr ein Umdenken einsetzen wird, bleibt dahingestellt. Am Ende flüchtet sie in die Zukunft und hält ihr Gesicht herausfordernd in die Kamera.