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Filmkritik
Kindermund tut Mangel kund. Wenn Wolf Küper (Tom Schilling) frühmorgens von Berlin nach New York aufbricht, um als Biodiversitätsforscher bei der UN die Welt zu retten, dann fragt die fünfjährige Tochter Nina (Pola Friedrichs) spätestens beim Frühstück, wo der Papa denn nun wieder sei und wie lange er diesmal fort sein wird. Mutter Vera (Karoline Herfurth), die halbtags als Bauingenieurin mit Schwerpunkt Nachhaltigkeit tätig ist, hat die Care-Arbeit für ihre Kleinfamilie übernommen, zu der neben Nina auch noch der kleine Simon gehört. Sie ist damit zutiefst unzufrieden und kurz vor dem Burn-out.
Anspruchsvoll & herausfordernd
Wie es zu dieser konfliktträchtigen Konstellation gekommen ist, bleibt im Dunkeln. Die Klimakonferenz in New York ist für Wolf ein voller Erfolg. Seine Vorgesetzte (Anneke Kim Sarnau) überschüttet ihn mit Lob und schmiedet große Pläne für die nähere Zukunft. Da heißt es am Ball bleiben und das Momentum nutzen. Als Wolf nachts erschöpft, aber euphorisch nach Hause kommt, eskaliert die Situation. Vera ist ungleich erschöpfter und zutiefst unglücklich, weil die ganze Care-Arbeit und der Haushalt an ihr hängenbleiben. Wolf wiederum wähnt sich auf dem Weg zum nächsten Karrieresprung, weil ihm die Teamleitung anvertraut wurde. Der Kalender ist prall gefüllt mit internationalen Konferenzen und anderen Terminen. „Anspruchsvoll“ wird es wohl werden. Herausfordernd, wie man so sagt.
Der nächtliche Streit ist nicht neu. Vera hat ihre Interessen und Ansprüche weniger frei- als vielmehr gutwillig hintangestellt und leidet darunter. Wolf dagegen will, kann und muss das Klima retten, was er durchaus auch als altruistischen Akt versteht. Und die großzügige Großstadtwohnung muss schließlich auch noch bezahlt werden.
An dieser Stelle kommt Nina ins Spiel, die an einer offenbar nicht unproblematischen Entwicklungsstörung laboriert, was sich aber eher als „niedlicher“ Eigensinn mit „putzigem“ Lexikon („Nicht so hatzig!“) objektiviert, da die sozial weitgehend isolierte Familie Küper einem Laborversuch unterzogen wird. Auch den Kinderarzt, den die Familie regelmäßig konsultiert, überrascht Nina mit hintersinnig-dadaistischer Fantasie. Als der gestresste Vater abends routiniert die Vorlesezeit absolviert, meldet Nina freundlich, aber bestimmt ein Defizit an: „Ich wünschte, wir hätten eine Million Minuten, nur für die ganz schönen Sachen.“
Eine bessere Work-Life-Balance
Ehekrise, Kinderwunsch und eine latente Unzufriedenheit mit der Vaterrolle lassen Wolf nachdenklich zum Taschenrechner greifen: Eine Million Minuten, 694 Tage, eine fünfjährige Tochter mit Behinderung – und ein zweijähriges Prestige-Projekt vor der Nase, das ihm kaum „Family-Time“ spendieren wird. Von Vera staunend beobachtet, fasst Wolf einen Plan. Wenn die Familie sich kurzerhand von allem Überflüssigen befreit, die Wohnung kündigt, auf die Möglichkeiten von Homeoffice setzt, dann eröffnet sich vielleicht eine neue, bessere Chance auf Work-Life-Balance und die Möglichkeit, ganz nahe bei den Kindern zu sein.
Die Ersparnisse spielen Wolf in die Hände. Zwei Jahre Ferien, nur eben ohne Ferien. Die Auswahl der neuen Lebensmittelpunkte übernehmen Nina und ein Globus. Die Wahl fällt auf Thailand (Sonne, Meer, Palmen, freundliche Indigene) und Island (Natur, Meer, wetterfeste Indigene). Warum nicht die Berufstätigkeit wechselweise in Schichten online vom Ferienhaus erledigen und die restliche Zeit direkt mit den Kindern verbringen und ihnen dabei zuzusehen, wie sie das Schwimmen oder das Fahrradfahren erlernen.
Leider überzeugt die Theorie mehr als die Praxis. Denn auch auf Reisen nimmt man sich immer selbst mit. Schichtarbeit produziert neue Konflikte, und nicht alle Termine lassen sich online zu festen Bürozeiten erledigen. Zumal, wenn es sich dabei um Erledigungen handelt, die von internationaler Bedeutung sind. Wieder ist es Nina, die eines Tages am Strand feststellt, dass Wolf „heimlich gestresst“ ist.
Eine reale Aussteigergeschichte
„Eine Million Minuten“ ist das Regiedebüt von Christopher Doll, der in unterschiedlichen Funktionen schon auf eine lange Karriere beim Film zurückblicken kann. Die prominent besetzte Adaption fußt auf dem gleichnamigen Bestseller von Wolf Küper, der gewissermaßen autobiografisch in seiner Aussteigergeschichte gesellschaftlich virulente Debatten um geschlechtsspezifische Rollenmuster, Work-Life-Balance, alternative Arbeitsweltmodelle und nicht zuletzt die grundsätzliche Frage nach Lebensqualität und Materialismus durchspielt. Allerdings auf der privilegierten Basis, dass erst entsprechende finanzielle Rücklagen der Kleinfamilie ihre Flexibilisierungsexperimente ermöglichten.
All dies findet sich auch in der Verfilmung, allerdings in pittoresker „Traumschiff“-Kulisse zwischen Palmen und Fjorden. Trotzdem will es sich der Film nicht zu einfach machen. Er fächert im Verlauf der Handlung eine veritable Anzahl bestehender oder neuer Konflikte auf, deren Komplexität allerdings zumeist auf die Figur Wolf beschränkt bleibt. Dessen Ehrgeiz wird im UN-Job nämlich durchaus positiv bewertet und entsprechend nachgefragt, während Veras Berufstätigkeit erst sehr spät konkret thematisiert wird und auch dann, wenn sie Vollzeit arbeitet, bestenfalls Dekor bleibt.
Dieses Ungleichgewicht bei den Figuren kennzeichnet den ganzen Film, der im Kern eine „Education sentimentale“ des Mannes dokumentiert, der mit Selbstzweifeln, Unehrlichkeit, Rückschlägen und faulen Kompromissen zu kämpfen hat. Und der, als er sich als Hausmann einer berufstätigen Partnerin ausprobiert, auch noch eifersüchtig reagiert, weil sein emanzipatorischer Rollenentwurf sich gegen die windgegerbten Handwerker nicht zu behaupten scheint. Wobei diese ihn angeblich insgeheim beneiden. Zudem fühlt sich Wolf auch noch von seinem dominanten Vater (Joachim Król) gegängelt, dessen Maßstäbe allein auf beruflichem Erfolg beruhen.
Wider besseres Wissen
„Eine Million Minuten“ scheint so bestenfalls ein Fall für die „Men Studies“ zu sein, keinesfalls aber ein Labor für moderne Partnerschaft. Der Film registriert sehr genau die Widersprüche, die sich aus den neu gefundenen Lösungen ergeben, schreckt aber vor realistischen Alternativen zurück. Was am Ende konsequent, aber kaum glaubhaft dazu führt, dass das absehbare positive, nämlich harmonische Finale wider besseres Wissen und gegen alle Wahrscheinlichkeit erzwungen erscheint.
Was für Nina die Begegnung mit einem verständnisvollen Rollstuhlfahrer und dessen Bruder auf Island ist, ist für Wolf eine Aussprache mit seinem hilflos-strengen Vater und die Verwirklichung des Traums eines verunglückten Kollegen. Letztlich läuft alles auf die sentimentale Formel hinaus, dass das größte Risiko im Leben darin besteht, es zu versäumen, während man sich im Hamsterrad verschwendet. Wohl denjenigen, denen der Luxus vergönnt ist, sich solchen weichgezeichneten Utopien hinzugeben.