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Filmkritik
Erst Ende Juni 2021 schlug ein Urteil des Bundesarbeitsgerichts hohe Wellen, das 24-Stunden-Pflegekräften aus dem Ausland einen Anspruch auf den Mindestlohn zuspricht – eine Entscheidung, deren Folgen für die Organisation der Pflege in Deutschland weitreichende Folgen haben dürfte, funktioniert die häusliche Betreuung kranker und alter Menschen hierzulande doch seit Langem nicht zuletzt mit Hilfe von Hunderttausenden ausländischen Pflegerinnen, oft aus Osteuropa, die bei ihren Arbeitgebern einziehen und rund um die Uhr zur Verfügung stehen. Eine Steilvorlage für den Kinostart des Films von Nadine Heinze und Marc Dietschreit, der solch eine Pflegekraft, ihre Arbeitsbedingungen sowie die wechselseitigen Abhängigkeiten von Pflegerin und Gastfamilie ins Zentrum stellt.
Marija darf keinen Besuch empfangen, nicht rauchen und ihren 5-jährigen Sohn samt Mutter in der Ukraine anrufen, soll stets einen weißen Kittel tragen und niemals die wie eine Betontrutzburg abweisende Luxusvilla verlassen: Die ihrer Intimität beraubte Marija hat sich nach einem Studium der Germanistik aus ökonomischer Not auf einen Job als 24-Stunden-Pflegekraft eingelassen. Die verbitterte und kontrollsüchtige Tochter des dementen Curt musste nach dem frühen Tod der Mutter deren Platz einnehmen und hat deswegen versäumt, sich ein eigenes Leben aufzubauen. Die Aufopferung soll nun ein Ende haben. Ihr jüngerer Bruder, irgendwann abgeschoben ins teure Internat, hasst seinen Vater, weil dieser über Jahrzehnte wegen seiner Arbeitswut die Familie vernachlässigte und zugleich bedingungslosen Gehorsam erwartete. Das hindert den selbstzentrierten Porsche-Fahrer nicht daran, seine Existenz ebenfalls der Profitmaximierung unterzuordnen und Marija wie ein Objekt zu behandeln, das gegen Bezahlung seinen Wunsch nach einer stets zur Verfügung stehenden Begleiterin zu erfüllen habe – so treffen finanzielle und emotionale Defizite von Menschen aufeinander, die nicht ungleicher sein könnten.
Ein Abgrund an zugeschütteten Konflikten
Marija, die Emilia Schüle mit einer ganzen Bandbreite erschütternder Sensibilität spielt, hat mit ihren 27 Jahren bereits die Erfahrung des Krieges und der Verantwortung für andere verinnerlicht und erkennt sogleich mit viel Sinn für Empathie den Berg an zugeschütteten Konflikten, die ihre dysfunktionale „Gastfamilie“ zerreißen. Sie kann ihr Innenleben erst gar nicht hinter einer Maske verstecken, ihre quälende Situation steht ihr ins Gesicht geschrieben, weswegen sie zunächst auch eine leichte Beute der Selbstsucht der anderen wird. Als Curt in ihr seine jung verstorbene Frau wiederzuerkennen glaubt, dafür aber seine Tochter wie eine Fremde behandelt, desertiert diese wutentbrannt aus ihrem familiären Gefängnis und verursacht unter Schmerzmitteln einen schweren Autounfall. Von nun an pflegt Marija ihren launisch-hellsichtigen Patienten nach eigenen Vorstellungen, ohne Zwang und grundlos verordnete Bettruhe.
Curt blüht nach Ausflügen und improvisierten Ferien am heimischen Swimmingpool auf. Er glaubt sich wieder zurück in einer harmonischen Vergangenheit der knallbunten Seventies und holt all die Komplimente nach, die er einst seiner depressiven Frau vorenthalten hatte. Die Wunden könnten beinahe geschlossen werden, wäre da nicht der krankhaft eifersüchtige Filius, der die Abhängigkeit Marijas als Druckmittel einsetzt, um sie ganz für sich zu bekommen. Hin und her gerissen zwischen Hoffnung auf eine längere Einstellung und dem Ekel vor den seelischen Übergriffen ihrer Arbeitgeber, verlässt sie schließlich ihre beobachtende Position und verwandelt sich in eine gnadenlose Konfrontationstherapeutin, die eine tief verdrängte Familientragödie an die Oberfläche holt.
Subversive Kraft
Eine erstaunlich subversive Kraft geht von dieser Tragikomödie aus; der Ton wechselt von bedrückend leise zu humorvoll skurril und wieder zurück, die treffsicheren Dialoge und die Gesten des großartigen Ensembles sitzen fest im ins letzte Detail durchdachten Inszenierungssattel, als hätte man es bereits mit altgedienten Profis à la Claude Chabrol zu tun, die ihre Figuren an den Rand der über Jahrzehnte sorgsam vermiedenen Selbsterkenntnis führen. Das soziale Spannungsfeld zwischen migrantischer Ausbeutung und bundesrepublikanischem Gefühlsdesaster fängt dieser kleine, wahrhaftige Film zwar ohne gewaltsame Katharsis, aber dafür mit jeder Menge Sehnsucht nach humanerem Miteinander auf.