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Filmkritik
Chris Wang (Izaac Wang) ist dreizehn Jahre alt. Gerade hat er einen Schulabschluss hinter sich gebracht. In ein paar Wochen wird er die High School in Fremont in Kalifornien besuchen. Vorher erhält er aber noch eine Zahnspange, deren Farbwahl bei seinen Freunden auf große Anerkennung stößt.
Was Chris in den „Zahnspangen“-Wochen bis zur High School erlebt, ist eigentlich kaum der Rede wert, andererseits aber eines der größten Abenteuer überhaupt. Und unterm Strich auch eine erstaunliche Erfolgsgeschichte. Denn Chris, den seine Clique „Wang-Wang“ ruft und der in der Familie „Didi“ (Söhnchen oder kleiner Bruder) geheißen wird, kann sich für diese Wochen so einiges vorstellen. So findet er die Skaterkultur cool, auch wenn er selbst jedes Talent missen lässt. Er hat etwas für seine ältere Mitschülerin Madi (Mahaela Park) übrig und stalkt sie auf Facebook, um für eventuelle Begegnungen gewappnet zu sein. Er ist dabei so erfolgreich, dass Madi ihn durchschaut, aber gerade deshalb „cute“ findet. Als sie dann aber einschränkend „für einen Asiaten“ anfügt, trifft das Chris empfindlich, denn der Sohn taiwanesischer Eltern wäre zumindest gerne ein „halbasiatischer“ Pubertierender.
Im Dauerclinch
Damit weitet sich der Blick des von Sean Wang offenkundig mit allerlei autobiografischen Details und Beobachtungen angereicherten Spielfilmdebüts. Die Familie Wang lebt zwar in den USA, doch der Vater ist zum Geldverdienen nach Taiwan zurückgekehrt und – zumindest in der kurzen Erzählzeit von „Didi“ – abwesend. Chris wächst also vaterlos auf, in einem Frauenhaushalt voller Konflikte. Da ist die vier Jahre ältere Schwester Vivian (Shirley Chen), mit der sich Chris in einer Art Dauerclinch befindet, der von Verbalattacken bis zu fiesen Rachestreichen reicht. Immerhin scheint sich das bald von selbst zu erledigen, denn Vivian steht kurz vor dem Absprung ins College.
Es gibt aber auch die Großmutter Nai Nai (gespielt von Chang Li Hua, der Großmutter des Regisseurs), die prinzipiell nur Chinesisch redet, auf Traditionen achtet und den Kontakt zur anderen Kultur grundsätzlich für gefährlich hält. Schon der kleinste Fehler könnte in ihren Augen das Ende der Familie Wang bedeuten, wie sie es als Szenario einmal meisterhaft entwirft.
Innerhalb der Familie Wang fungiert Nai Nai zudem als personifizierter Vorwurf an die Mutter Chungsing (großartig empathisch: Joan Chen), weil die in ihren Augen als Mutter permanent versage. In einer sehr intimen Szene erzählt die Mutter ihrem Sohn davon, wie sie es gelernt hat, ihre eigenen Träume umzuleiten. Einst wollte sie unbedingt als Malerin Karriere machen. Doch als Mutter in einer dysfunktionalen Familie sei es ihre zentrale Aufgabe geworden, ihren Kindern ein Zuhause zu schaffen. Ihr, der Mutter des Regisseurs, ist der Film gewidmet.
Wenngleich Chris im Film und auch in seinem eigenen Leben eindeutig der Protagonist ist, so gelingt es „Didi“ durchaus, auch den Nebenfiguren Raum zu verschaffen und ihre je eigenen Geschichten zumindest anzudeuten.
Wie man besser Küssen lernt
Für Chris, aber auch für seine Clique, ist die kurze „Zahnspangen“-Zeit auch ein Labor der Erprobung unterschiedlicher Selbstentwürfe. Also ein kunterbuntes Identitätskabinett. Das führt allerdings auch dazu, dass nicht alle Freundschaften die Zeit überdauern, da sich fortwährend neue Perspektiven ergeben. Chris ist mal zu schweigsam, aber wieder zu offenherzig, mal verstört, mal aggressiv, ist mal zu selbstbewusst, muss dann aber Kritik an seiner Selbstüberschätzung einstecken.
In einer coolen Skatergruppe findet er neue Freunde, für die er als Filmemacher von Skaterfilmen fungiert. Leider aber lässt das gedrehte Material zu wünschen übrig. Das ist allerdings eine weitere Qualität von „Didi“, der seine Geschichte mit allerlei Impression aus der Medienarchäologie anreichert. „Didi“ spielt 2008 und eröffnet eine Wiederbegegnung mit AOL, ICQ-Messenger, dem Klingeltöne-Wahnsinn und dem hippen neuen Ding namens Facebook. Social Media fährt seine Krallen aus, im Hintergrund läuft US-Indie-Rock. Jungenstreiche werden mit Wackelbildern dokumentiert und dann schnurstracks auf YouTube hochgeladen. Dort finden sich auch die Tutorials, um sich den Slang der Skater und erfolgversprechende Kusstechniken anzueignen. Allerdings muss man permanent auf der Hut sein, damit auch das vorgestern gebastelte Image noch den Ansprüchen von Übermorgen genügt.
Wo sich so viele Chancen eröffnen, ist das Risiko des Scheiterns immer präsent. Bestes Beispiel dafür Chris’ Wissen über Madis Lieblingsfilme. Das bringt ihm beim Flirten zwar ein paar Punkte ein, führt aber gleich wieder zur Ernüchterung, wenn ihm die entsprechenden Filme auf Rückfrage offenkundig unbekannt sind. Die Chuzpe, mit der er sein Versagen weglächelt, macht ihn für Madi jedoch ganz besonders, zumal es ja durchaus spontane Geschmacksübereinstimmungen zu geben scheint.
Ein großer Publikumserfolg
Doch Madis Selbstbewusstsein ist Chris dann doch ein paar Nummern groß. Für eine Coming-of-Age-Geschichte ist „Didi“ hingegen ein paar Nummern zu klein. Aber am Schluss, ohne Zahnspange, hat Chris zumindest so viele Erfahrungen gesammelt, dass er am ersten Tag in der High School einen Kurs wählt, der am Horizont perspektivisch einen Film wie „Didi“ aufscheinen lässt. Mit dem konnte Sean Wang auf internationalen Festivals wie Sundance oder München zwar nicht überraschen, hat aber zu Recht die Publikumspreise abgeräumt.