Vorstellungen
Leider gibt es keine Kinos.
Filmkritik
"Man glaubte schon, der Neorealismus sei tot. ,Der Schrei` hat ihn wieder auferstehen lassen mit all seinen Verzauberungen und seinen erschütternden Höhepunkten." So schrieb ein französischer Kritiker über Michelangelo Antonionis Film. Und er hat recht: diese Szenen poetischkühlen Ausdrucks verbergen ein geheimes Feuer, wie es nur bedeutende Künstler spürbar machen können. Die äußere Handlung dient lediglich als Gerüst. Aldo, ein junger Mechaniker, lebt seit acht Jahren mit einer Frau zusammen, deren Mann nach Australien ausgewandert ist. Beide haben zusammen ein Töchterchen. Als die Nachricht vom Tode des Ehemannes eintrifft und Aldo hofft, die Frau werde ihn jetzt heiraten, eröffnet sie ihm, sie liebe längst einen anderen Mann. Enttäuscht und bedrückt verläßt Aldo mit seinem Töchterchen den Ort. Damit beginnen eine lange Wanderung über die Landstraßen, die Suche nach Arbeit, die flüchtigen Liebschaften mit Frauen, die ihn immer wieder enttäuschen. Als er schließlich hoffnungslos und leergebrannt in sein Dorf zurückkehrt, steigt er - wie einst - auf den Arbeitsturm der Fabrik, von dem er haltlos hinabstürzt in die Tiefe. - Die unkritisch-amoralische Grundhaltung dieser Erzählung, deren Anfangskonstellation den fortgesetzten Ehebruch mit einer Selbstverständlichkeit offeriert, als sei dies eine durchaus normale Form menschlichen Zusammenlebens, ist nicht gerade geeignet, für den Film einzunehmen. Doch man spürt schnell, daß hier kein Neorealismus in der Abfolge äußerer Ereignisse angestrebt wurde, sondern vielmehr ein "Neorealismus des Innenlebens", zu dem die tatsächlichen Vorgänge nur anlaßgebend sind. So nimmt denn auch im Verlauf der Handlung die Schilderung dieser Flucht vor der eigenen Verlassenheit bisweilen sehr lapidare Züge an. Die eigentliche Aufmerksamkeit des Regisseurs gehörte dem bildlichen Ausdruck der seelischen Verfassung "Einsamkeit". Der Film wurde geradezu eine Studie über ein Gefühl, dessen Gegenwart in einem fast zweistündigen Film man vorher lebhaft bezweifelt hätte. Die äußere Ruhe der Bilder, ihre leise Poesie, die karge Fotografie in nebeliger Landschaft, die trostlosen Weiten des Po-Deltas, der Blick in die alltäglichen Gesichter der Menschen finden sich zusammen zu einem Raum der Leere, in dem man einzig immer wieder das Gesicht jenes Mannes sieht, der die Geborgenheit seines Zuhauses und die Ausgeglichenheit seines Herzens verloren hat. Ruhelos ist er unterwegs in einem Land, das ihm plötzlich mit fremder Kälte zu begegnen scheint. Und in der Stille der Landschaft, der scheinbaren Endlosigkeit der Straße, der Gleichgültigkeit der Menschen, hallt der unhörbare Schrei des Verlassenen. Hier wurde tatsächlich eine Möglichkeit des Films als dichterisches Ausdrucksmittel konsequent auf ein ganzes Werk angewandt, die bisher in Einzelszenen da und dort zu entdecken, bereits als besonderer Glücksfall erschien (wir erinnern an Cocteau, Bresson und Fellini). Der Einheitlichkeit der Bildgestaltung korrespondiert eine den inneren Gehalt des Films nahezu vollkommen verkörpernde Musik. Der Komponist bediente sich fast ausschließlich eines kurzen Klavierthemas. Nicht der Aufwand - weder in kompositorischer noch in wiedergabetechnischer Hinsicht - schafft den Ausdruck, sondern die Intensität des Einfalls! Es wäre nicht nötig gewesen, den "Schrei" am Schluß des Films lautstark vernehmbar zu machen, wie Antonioni sich überhaupt die im Film offenbar unvermeidliche "Katastrophe" hätte sparen können. Auch gelangen ihm die Gespräche zwischen Vater und Kind nur unvollkommen. Mag sein, daß man sich an diesen Stellen zu leicht an große Vorbilder bei De Sica und Germi erinnert. Doch das sind relativ geringfügige Mängel, die der künstlerischen Größe des Werkes kaum Abbruch tun. Seiner ganzen Konzeption nach ist "Der Schrei" ganz und gar ein Film für Filmclubs und Studiotheater. Wer die Handlung als vordergründige Unterhaltung nimmt, erlebt nicht mehr als ein moralischer Grundsätze entkleidetes Vabanquespiel mit der Liebe. Wer den Film ernsthaft erwägt, wird leider nicht umhin können, eine scheinbar ausweglose Verfallenheit des Menschen an die Sünde festzustellen, die keine christliche Hoffnung kennt. Was Antonionis Film von manch ähnlichem Werk Fellinis grundlegend unterscheidet, ist die Abwesenheit der Gnade, aus der allein die Kraft der Überwindung fließen kann.