- RegieMichal Englert, Malgorzata Szumowska
- ProduktionsländerDeutschland
- Dauer113 Minuten
- GenreTragikkomödie
- Cast
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Filmkritik
Früher gab es hier Rebhühner und Wiesen. Dann verwandelte sich die Niederung am Fluss, direkt vor den Toren der großen Stadt, in eine geschützte Siedlung für Wohlhabende. Mit Häusern, die allesamt gleich aussehen. Mit Wachpersonal, das unbefugte Gäste abwehrt. Und mit Bewohnern, die zwar über genügend Geld verfügen, aber keineswegs glücklich sind.
Ein strenger Ex-Soldat, ein Krebskranker, eine alkoholabhängige Mutter, eine Frau, die ihre Hunde mehr liebt als Menschen. Oft sind ihre Gesichter zu Masken erstarrt und spiegeln Einsamkeit, innere Leere und ein Gefühl von Lebensüberdruss. Jeder für sich und Gott gegen alle. Bis plötzlich ein junger Mann das Terrain betritt: Zhenia, der seine Dienste als Masseur anbietet und mit seinen Händen wenigstens für eine halbe Stunde das Paradies zu imaginieren vermag.
Sprachbegabt & mit Zauberhänden gesegnet
Die zentrale Figur ist zugleich ein realer wie ein mythischer Held. Aus einer Art dunklem Märchenwald kommt er in die polnische Gegenwart: sprachbegabt und mit zauberischen Händen gesegnet. In knappen Rückblenden skizziert der Film von Małgorzata Szumowska und Michał Englert die Herkunft von Zhenia: die Kindheit in der Ukraine, in der Nähe von Tschernobyl, jenem Atomkraftwerk, das an seinem siebten Geburtstag explodierte und seine Mutter in den Tod riss.
Der Film behauptet nicht, Zhenias Fähigkeiten aus dem radioaktiven Regen heraus erklären zu wollen, der damals auf ihn niederfiel, aber die Regisseure deuten diese Möglichkeit an. Überhaupt ist „Der Masseur“ nicht auf rationale Erkenntnis aus; der Film verzichtet auf eine Dramaturgie simpler Durchschaubarkeit. Vieles bleibt in einem Reich zwischen Tag und Traum, im Universum spiritueller Erkundungen und Erfahrungen.
Alec Utgoff spielt diesen Zhenia. Utgoff ist ein aus der Ukraine stammender britischer Schauspieler mit weichen Zügen, einem durchtrainierten Körper und einem freundlich distanzierten Lächeln. Utgoff ist hier der große Schweiger, der mit seinen Händen die Körper und Seelen der anderen erforschen und seine Klienten wenigstens partiell von Ängsten, Stress und Psychopharmaka erlösen kann.
Ein zeitgenössisches Märchen
Die Inszenierung lässt offen, ob hinter seinen Taten ein größerer, gar göttlicher Plan schlummert. Seine erwachsenen Kunden wissen jedenfalls nicht genau, was mit ihnen geschieht; nur Kinder und Tiere scheinen Zhenia auf merkwürdige Weise zu „erkennen“. Mit dem Schnipsen seines Fingers befördert er die Kranken, Traurigen und Müden auf eine Reise durch ihr eigenes Unterbewusstsein. Ein Refugium, das von Mondlicht erhellt und in dem eine Art Heilung möglich ist. Der Schnee, der den polnischen Originaltitel prägt („Es wird nie wieder Schnee fallen“), stellt in Zhenias symbolisch aufgeladener Vorstellungswelt ein Mittel der Reinigung und Läuterung dar, ein Anlass des Innehaltens und einer neuen Verbundenheit zu Natur und Erde.
Für ihr Trost spendendes zeitgenössisches Märchen nutzen Szumowska und Englert zahlreiche Anleihen aus der Filmgeschichte. So trägt Zhenia durchaus Züge jenes mysteriösen Engels, der einst in Pier Paolo Pasolinis „Teorema“ in Mailand landete und die Lebenswege einer ganzen Familie neu justierte. Allerdings fehlt im „Masseur“ der Strudel sexueller Befreiung, in den Pasolini seine Figuren geworfen hatte; Zhenia kommt als erotisches Neutrum daher, auch wenn seine Klientinnen entsprechende Aktivität von ihm erwarten.
Statt ihren Wünschen nach sexueller Befriedigung nachzukommen, hypnotisiert er sie und spendet angenehme Träume. Einmal sieht man ihn nach der Arbeit beim Besuch einer Peepshow; dabei wird nahegelegt, dass er sowohl weiblichen als auch männlichen Tänzern Reize abgewinnen könnte. Aber auch dies bleibt, wie das Symbol des goldenen Kreuzes um seinen Hals und so vieles andere, im Ungefähren.
Es gibt noch andere Geheimnisse zu entdecken
Die Gated Community erinnert, mitsamt den Nöten und Beschwernissen ihrer Bewohner, an das furiose Kinodebüt „American Beauty“ von Sam Mendes, ohne allerdings dessen radikalen Schluss zu adaptieren. Nirgendwo werden die Hilfsbedürftigen denunziert, egal wie seltsam ihre Haltungen auch sein mögen; statt sarkastischer Distanz, die durchaus möglich wäre, erlaubt sich der Film ein Gefühl großer, allumfassender Traurigkeit. Dabei wirken Zhenias einsame Gänge durch die Siedlung oder in den Wald wie Anleihen bei Andrej Tarkowskis mythischem „Stalker“. Und dass Dmitri Schostakowitschs berühmter Walzer in die schwebend-rudimentäre, bisweilen etwas redundant wirkende Handlung eingeflochten ist, mag eine Hommage an Stanley Kubrick sein, der dieses Musikstück in „Eyes Wide Shut“ verwandte; auch das eine Parabel über die Suche wohlhabend-frustrierter Zeitgenossen nach einer Erlösung im Zauberreich des Übernatürlichen.
Erst ganz am Ende brechen die Regisseure die Figur des Zhenia auf. Er betrinkt sich mit einem Wachmann, dem einzigen anderen „Arbeiter“ im Film. Die Abenteuer des bodenständigen Engels auf Erden sind allerdings noch nicht zu Ende; im Inneren des Masseurs, dieses nicht nur zärtlichen Helden, schlummern Geheimnisse, die es noch zu entdecken gilt.