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Filmplakat von Der Kuaför aus der Keupstrasse

Der Kuaför aus der Keupstrasse

97 min | Dokumentarfilm | FSK 0
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Als am Nachmittag des 9. Juni 2004 eine Nagelbombe vor dem Geschäft des Frisörs Özcan Yildirim explodierte, waren die Folgen für die Opfer des Anschlags gleich doppelt traumatisch. Sie mussten sich nicht nur mit dem Verbrechen an sich auseinandersetzen, sondern machten die schockierende Erfahrung, selber als Verdächtige von den Ermittlern ins Visier genommen und kriminalisiert zu werden. Mit seinem Dokumentarfilm über die lange nicht mit einem fremdenfeindlichen Hintergrund in Verbindung gebrachte Mordserie der NSU rückt Andreas Maus einen Themenkomplex in den Vordergrund: Der lange Leidensweg der Opfer, der durch den institutionalisierten Rassismus im Ermittlungsapparat mitgetragen wurde. (v.f.)

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Filmkritik

Die Keupstraße im Kölner Stadtteil Mülheim geriet 2004 in den Fokus der bundesdeutschen Medien, als am 9. Juni eine Nagelbombe vor dem Friseurladen von Özcan Yildirim explodierte. Viele Menschen wurden zum Teil schwer verletzt; wie durch ein Wunder kam niemand ums Leben. Wer hinter dem Anschlag steckte, wurde erst sieben Jahre aufgedeckt: die NSU. Bis zu diesem Zeitpunkt wollten die Behörden partout nichts vom rechtsradikalen Terrorismus wissen. Ganz im Gegenteil: Die Ermittler verdächtigten die mehrheitlich türkischstämmigen Opfer als Täter und unterwarfen sie jahrelang einer haarsträubenden polizeilichen Willkür. Noch heute sprechen die Betroffenen davon, dass zwei Bomben detoniert seien: „Die Nagelbombe war nur die erste; die andere, die größere war für uns, dass der Rechtsstaat versagt hat.“ Der Dokumentarist Andreas Maus ist den skandalösen Versäumnissen der Behörden nachgegangen und dabei auf eine Mauer des Schweigens gestoßen. Obwohl sich die Verhörprotokolle der Polizei in der Rückschau beschämend ausnehmen, will niemand die Verantwortung tragen oder sich gar bei den Opfern entschuldigen. Dagegen setzt sich der Film zur Wehr. Er rekonstruiert nicht nur die Geschichte des Anschlags und seiner blinden Nicht-Aufklärung, sondern er gibt vor allem den betroffenen Menschen Raum und Gesicht. Zu den eindringlichsten Passagen gehört die „Rahmung“ mit stillen, konzentrierten Aufnahmen der Ladenbesitzer, die das Schlagwort „Keupstraße“ in eine lebendige Landschaft aus Personen, Orten und Tätigkeiten verwandeln. Die Ruhe und Besonnenheit der Inszenierung prägen auch die mit Schauspielern nachgestellten Verhörszenen, in denen der „Kuaför“ Yildirim und sein Bruder sowie deren Ehefrauen noch Jahre nach dem Anschlag von der Polizei drangsaliert wurden. Mit befremdlicher Taktik versuchten die Beamten die Eheleute gegeneinander auszuspielen und schreckten sogar vor dem Einsatz von zwei verdeckten Ermittlern nicht zurück. Besonders beunruhigt dabei der Gegensatz zwischen dem Aufwand, mit dem die Polizei jahrelang eine Verstrickung des „Kuaförs“ Yilderim belegen wollte (Stichworte: „Türsteherszene“, Schutzgelderpressung, organisierte Kriminalität) und der Hilflosigkeit, mit dem die polizeiliche Blindheit im Nachhinein kaschiert, negiert, abgestritten oder schlicht verdrängt wird. Das inszenatorische Kalkül, „dokumentarische“ Szenen aus dem Salon von Yildirim mit bühnenhaften Elementen zu mischen, in denen beispielsweise die Keupstraße abstrakt nachgestellt wird, geht auf; der Film verliert sich dadurch nicht in einer reportagehaften Chronologie der Ereignisse oder in sensationsheischenden Reenactments, sondern entfaltet exemplarische Tableaus, Denk-Bilder, die sich in unterschiedlichste Richtungen weiterspinnen lassen. Die Porträts der realen Personen wie ihrer darstellerischen Repräsentanten, meist frontal fotografiert, schlagen einen wunderbaren Bogen zwischen Authentizität und exemplarischer Bedeutung, wie überhaupt der experimentelle Mut der Inszenierung für sich einnimmt. Wobei nicht alles gelingt; manches wirkt uneinheitlich, unausgegoren. Doch es gibt dokumentarische Lichtblicke, Glanzstücke teilnehmender Beobachtung, so aufschlussreich wie grundlegend. Dazu zählen insbesondere Szenen mit dem Bundespräsidenten Gauck. Als zum 10. „Jahrestag“ des Anschlages ein großes „Birlikte“ („Zusammenstehen“)-Bürgerfest gefeiert wurde, fand auch das Staatsoberhaupt ein paar verbindende Worte. Doch sein Besuch im Friseursalon bei Yildirim gerät zum peinlichen Medienspektakel, das nicht nur den hemdsärmeligen Präsidenten und seine Begleiter beschämt, sondern überdies ein entlarvendes Licht auf repräsentativ-symbolische Gesten wirft. Die Begegnung mit den unmittelbaren Opfern entpuppt sich in der Beobachtung durch Maus als ein von den omnipräsenten Medien geradezu erzwungener, künstlich inszenierter Moment, der als staatspolitische oder auch nur menschliche Anteilnahme nur knapp am Desaster vorbeischrammt, für Özcan Yildirim aber dennoch eine tiefe Genugtuung darstellt.

Erschienen auf filmdienst.deDer Kuaför aus der KeupstrasseVon: Josef Lederle (10.6.2024)
Vorsicht Spoiler-Alarm!Diese Filmkritik könnte Hinweise auf wichtige Handlungselemente enthalten.
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