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Filmkritik
Es ist ein bitterer Marsch, den der amerikanische Augenarzt Tom Avery antritt. Die Pilgerreise nach Santiago de Compostela ist für ihn fast eine Art Passionsweg, und das nicht nur, weil die körperlichen Anstrengungen und Unbequemlichkeiten des Pilgerns für den alten Mann eine große Strapaze darstellen. Tom ist das Schlimmste widerfahren, was einem Vater passieren kann: Er hat sein Kind verloren. Toms erwachsener Sohn Daniel ist auf dem Camino verunglückt. Was für Tom umso qualvoller ist, weil er sich in den Jahren zuvor von seinem Sohn entfremdet hatte. Warum genau sich Tom dafür entscheidet, anders als ursprünglich geplant Daniels Leiche nicht aus Südfrankreich heim in die USA zu bringen, sondern ihn einäschern zu lassen, dann die Asche in Daniels Wanderrucksack zu packen und stellvertretend für den Sohn die traditionelle Wanderung Richtung Santiago anzutreten, das lässt der Film offen. Kann Tom nach dem Verlust nicht gleich wieder zurück in sein gewohntes Leben? Ist es eine Art Buße, der Versuch, dem Sohn nachträglich näher zu kommen? Jedenfalls wird Daniel in Toms Fantasie zum Reisegefährten des Vaters: Immer wieder sieht der alte Mann den Toten unterwegs vor sich, immer wieder macht er halt, um einen Teil der Asche an einer Wegmarke oder einem besondere Platz auszustreuen. Bei diesem imaginären Reisegefährten bleibt es allerdings nicht. Über hunderttausend Menschen absolvieren mittlerweile jährlich den Camino, und so kann es nicht ausbleiben, dass Tom einigen von ihnen begegnet. Da ist der Niederländer Joost, dessen provozierende Heiterkeit in Toms Trauer platzt wie der Elefant in den Porzellanladen. Joost ist aus einem ganz profanen Grund auf dem Camino: um beim Wandern abzuspecken. Unterwegs begegnen die beiden der Kanadierin Sarah, die zunächst durch besondere Zickigkeit auffällt. Trotzdem schließt sie sich Tom und Joost an. Sie ist auf dem Camino, um einen Absprung vom Rauchen zu finden. Als Vierter im Bunde stößt der redselige Ire Jack zum Trio, ein Schriftsteller, der beim Festhalten seiner Gedanken über den Camino seine Schreibblockade überwinden will. Die Eigenheiten dieser Figuren zeichnen die Darsteller und Regisseur Emilio Estevéz so, dass sie die Toleranzgrenze des liebenswert Schrulligen deutlich überschreiten. So komödiantisch-warmherzig wie Coline Serraults „Saint Jacques ... Pilgern auf Französisch“ (fd 38 299) ist „Dein Weg“ nicht. Man hat es mit Zeitgenossen zu tun, an die man sich, wie Tom, erst gewöhnen muss, bevor man hinter ihren Ecken und Kanten die sympathischen Seiten, die Zwischentöne wahrnimmt. Man muss sich Zeit nehmen, um in den zunächst eindimensionalen Motiven, die sie als Grund für ihre Pilgerschaft angeben, die tieferen Bedürfnisse und Sehnsüchte zu erahnen. Ähnlich wie man Schuhe beim Wandern erst einmal einlaufen muss, braucht auch Estevéz eine Weile, bis sein Film dramaturgisch „ins Laufen“ kommt; vor allem mit der Balance zwischen Tragischem und leichteren Tönen tut er sich zunächst etwas schwer – da wirken die ersten komödiantischen Auflockerungen neben der Trauer des Vaters noch etwas grob. In der Natur des Genres „Reisefilm“ liegt die episodische Struktur des Films: Viele kleine Begegnungen reihen sich aneinander, und neben der Auseinandersetzung von Tom, Joost, Sarah und Jack kommen somit noch weitere Themen ins Spiel (und bleiben mitunter etwas klischeehaft, wie etwa ein Intermezzo mit „Zigeunern“). So stimmig wie in seinem meisterlichen Film „Bobby“ (fd 38 049) gelingt Estevéz die Synthese unterschiedlicher Elemente hier nicht; insgesamt wirkt „Dein Weg“ etwas „zerfasert“ – was freilich für einen Film über den Camino gar nicht so unpassend ist: Aus verschiedenen Eindrücken und erzählerischen Tonfällen ergibt sich ein Mosaik modernen Pilgerns, das in sich selbst eben höchst divergent ist und in dem die touristische Lust an Land, Leuten und Kultur, Outdoor-Aktivismus, Selbstfindungstrip und religiöse Bedürfnisse ineinander spielen. „Ich bin dann mal weg“ hieß salopp der Jakobsweg-Bestseller von Hape Kerkeling. Der Titel deutet eher auf eine Aussteiger-Sehnsucht hin als auf den alten Pilger-Wunsch, an einem religiös bedeutsamen Ziel anzukommen. Auch für die Pilger, die Tom begleiten, ist das Bedürfnis, von etwas weg- bzw. los zu kommen, zunächst die zentrale Motivation. An einer berührenden Stelle des Films legen sie dann, einer Tradition folgend, am „eisernen Kreuz“ auf einen Haufen von Steinen, die andere Pilger hinterlassen haben, eigene Steine nieder: Symbole für den jeweiligen inneren Ballast, den sie mit sich herum schleppen. So schlicht diese zeichenhafte Geste ist: Sie scheint für die areligiösen Pilger doch bedeutsam, bewegend – und man gewinnt einen Eindruck davon, dass die äußere Reise auch eine innere, spirituelle Reise geworden ist. Bei der Ankunft in Santiago scheinen sie dann für die „Sprache“ der Kirchenräume und Rituale einen Sensus entwickelt zu haben, der sie diese intuitiv verstehen lässt. Mit Mystifizierung oder religiöser Erweckung hat das nichts zu tun, gleichwohl aber mit der Einsicht und Akzeptanz der menschlichen Grenzen – seien diese nun durch den Tod gesetzt oder nur durch die eigenen Schwächen – und der daraus resultierenden Heilsbedürftigkeit. Die Antwort auf die von Jack im Lauf des Films aufgeworfene Frage, was ein „wahrer Pilger“ sei, bleibt dem Zuschauer überlassen. Ebenso wie ein Urteil darüber, ob der Segen des Pilgerns „von oben“ kommt, ob aus dem Pilgernden selbst oder vielleicht auch aus der Gemeinschaftserfahrung des Unterwegsseins mit anderen.