- RegieStephen Chbosky
- Dauer137 Minuten
- GenreDrama
- TMDb Rating6.4/10 (161) Stimmen
Cast
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Leider gibt es keine Kinos.
Filmkritik
Die Angst steckt ihm in allen Gliedern. Zu Beginn des Musicals „Dear Evan Hansen“ muss sein 17-jähriger Protagonist all seinen Mut zusammennehmen, um sich am ersten Tag des neuen Schuljahres aus dem Haus und in die High School zu wagen. Sich unter anderen zu bewegen, Rede und Antwort zu stehen und sich selbst zu präsentieren, ist für Evan Hansen wie für alle Menschen mit Sozialer Phobie der pure Schrecken.
Schon der Gedanke an die Erwartungshaltung der Umwelt ruft körperliche Beklemmung, Schwindel und nicht enden wollende Nervosität hervor. Häufig werden Situationen aus Furcht vor Blamage ganz vermieden – ein Symptom also, das sich durch Nichtwahrnehmbarkeit äußert. Was für die Aufklärung über diesen Zustand fatal ist: Statt sensibler Rücksichtnahme trifft Soziale Phobie eher auf Ignoranz oder sogar Verleugnungsreflexe – die mühsamen Versuche, die Probleme zu verheimlichen, kehren sich auf perfide Weise gegen die Betroffenen selbst.
„Dieses Jahr soll es anders laufen“
Evan Hansen erhält immerhin Beistand durch ermunternde Worte seiner Mutter Heidi, Medikamente und eine Therapie, deren jüngste Frucht der Rat ist, dass der Junge an sich selbst Briefe schreiben soll, um sein Selbstbewusstsein zu stärken. „Dieses Jahr soll es anders laufen“, versucht die alleinerziehende Mutter ihrem Sohn einzuprägen. Da Evan sich im Sommer den Arm gebrochen hat und einen Gips trägt, liegt es nahe, dass er darauf angesprochen wird und so leichter den Einstieg in die von ihm so gefürchteten Gespräche schafft. Die Chancen auf Fortschritte von Evans Bilanz sozialer Kontakte scheinen tatsächlich vergleichsweise gut zu stehen.
Doch was hier anfangs an vorsichtigem Optimismus formuliert wird, verflüchtigt sich schnell, als Evan die Schule erreicht hat. Der Einzige, der mit ihm spricht, ist Jared, der Sohn einer Familie, die mit Evans Mutter befreundet ist – und der nennt Evans Erklärung, die Armverletzung habe er, weil er auf einen Baum geklettert und runtergefallen sei, eine erbärmliche Geschichte. Ansonsten nimmt niemand den Gips oder gar seinen Träger wahr, außer einem weit offensichtlicheren Außenseiter der Schule: Connor Murphy kleidet sich auffällig, hat allseits bekannte Drogenprobleme und gewaltsame Ausfälle, was Evan an diesem Tag direkt zu spüren bekommt.
Ein verhängnisvoller Brief
Als Connors Schwester Zoe sich für ihren Bruder entschuldigt, bringt Evan keinen klaren Satz zustande, auch weil er insgeheim Gefühle für Zoe hegt. So sitzt er kurz darauf vor dem Computer in der Schulbibliothek und schreibt einen weiteren Brief an sich selbst, aus dem nur noch Frust und Hoffnungslosigkeit sprechen.
Noch hat Evans Demütigung aber kein Ende. Connor hat ihn beobachtet, steckt den ausgedruckten Brief ein und verschwindet damit, nachdem er zuvor seinen Namen noch auf Evans Gips geschrieben hat – „wir könnten ja so tun, als wären wir Freunde“. Evans nächstliegende Furcht, seinen Brief online wiederzuentdecken, bewahrheitet sich allerdings nicht. Stattdessen trifft er wenige Tage darauf im Büro des Direktors auf Connors aufgelöste Eltern: Connor hat sich das Leben genommen, und der bei ihm entdeckte Brief scheint auf eine Freundschaft mit Evan hinzudeuten; nach einem Blick auf den Gips sind die Murphys davon erst recht überzeugt.
Da Evan nicht die Worte findet, um das Missverständnis aufzuklären, verfällt er auf den vermeintlich einfachsten Ausweg und bestätigt die Freundschaft. Doch aus wenigen Satzfetzen wird ein Netz aus Lügen, in dem sich Evan zusehends verstrickt, je mehr vor allem Connors trauernde Mutter Cynthia Trost aus den vermeintlichen positiven Elementen im kurzen Leben ihres Sohnes zieht.
Die Songs lösen die Blockaden
Während „Dear Evan Hansen“ einerseits sehr authentisch das Dilemma des Jugendlichen abbildet, entweder ewig nach Worten ringen zu müssen oder einen einmal angestoßenen Wortschwall kaum noch stoppen zu können, fügen die Musical-Nummern dem Stoff eine schlüssige und sehr wirkungsvolle zusätzliche Ebene hinzu, die aus der realistischen Basis heraustritt. Die überwiegende Zahl der Lieder des Komponisten-Duos Benj Pasek und Justin Paul bringen das, was insbesondere Evan, aber auch den anderen Figuren, beim konventionellen Sprechen nicht gelingt, in eine elegante Form. Eine gewisse Überhöhung der Gefühle entspricht dabei der gesteigerten Ausdruckskraft, die sich durch Gesang und Musik entwickelt – ein Verfremdungsmittel, das aber die intensive Authentizität der Szenen nur noch verstärkt.
Denn Drehbuchautor Steven Levenson, der auch schon das Libretto des Bühnen-Musicals verfasst hat, und Regisseur Stephen Chbosky wollen nicht auf eine Geschichte heraus, die ihre Hindernisse rasch aus dem Weg räumt, um sich dann gemütlich in Harmonie einzurichten. Auf eine Wunderheilung, die Evan Hansen zum selbstsicheren, angstbefreiten Menschen macht, braucht man nicht zu hoffen, auch wenn der wiederholte Kontakt mit der Murphy-Familie den Jugendlichen glaubhaft aufleben lässt. Die Eltern schließen ihn immer mehr ins Herz und behandeln ihn wie einen zweiten Sohn, und mit Zoe, die anfangs heftig gegen die posthume Verklärung ihres „Psycho“-Bruders aufbegehrt, entwickelt sich zuerst eine Vertrautheit und schließlich tatsächlich eine Beziehung.
Eine Erinnerungsstätte für Connor
Hinzu kommt neue Aufmerksamkeit in der Schule, die durch Evans Status als einziger Freund eines Selbstmörders entsteht, angetrieben vor allem von der engagierten Schülerin Alana Beck. Auf der öffentlichen Gedenkfeier, bei der Evan wieder mit Hilfe eines Songs einen peinlichen Moment überwindet, entstehen Videos, die sich im Internet verbreiten und ein weiteres Projekt anstoßen: Die Einrichtung einer Erinnerungsstätte für Connor, für die anfangs eifrig Spenden eingehen.
Es spricht für die kluge Konzeption von „Dear Evan Hansen“, dass auf dieses virale Phänomen bald die Desillusion folgt, wenn sich die Unterstützung der „Netzgemeinde“ erst in Gleichgültigkeit und dann in unreflektierte Feindseligkeit wandelt. Eine Skepsis vor leichten Lösungen prägt den ganzen Film, der die Ambivalenz allzu eindeutigen Zuschreibungen vorzieht.
Das betrifft besonders jene Figuren, deren Positionen zwar mitunter fehlgeleitet sind, aber als Ausdruck subjektiver Befindlichkeit stets nachvollziehbar bleiben. Evans Wunsch, Schwierigkeiten zu vermeiden, macht der Film ebenso plausibel wie Cynthias Beharrlichkeit, in ihrem Sohn einen missverstandenen Menschen zu sehen. Auch Zoes Widerstand, hinter dem lebenden wie dem toten Connor aus dem Blick zu geraten, oder die Haltung Alanas, die ebenfalls mit Furcht kämpft, oder den Protest von Heidi Hansen, dass eine andere Familie ihren Sohn mehr und mehr vereinnahmt.
Die einfühlsame Regie von Stephen Chbosky, der schon in seinem Roman „The Perks of Being a Wallflower“ und dessen Verfilmung ähnliche Themen aufgegriffen hat, trägt viel zur angemessen getragenen Stimmung des Films ein. Die für Musicals oft obligatorischen Ensemble-Nummern fehlen hingegen; dafür besitzen alle Songs eine Intimität, wie sie in diesem Genre selten ist.
Auch schauspielerisch ist der Film exzellent, von der Wucht halb gedrosselter Emotionen, die Ben Platt in seine Darstellung von Evan legt, über die tiefe Verletzlichkeit von Kaitlyn Dever als Zoe bis zu den unterschiedlichen Trauerhaltungen von Amy Adams und Danny Pino als Connors Eltern. Sie alle haben Anteil daran, dass der Film den Ernst seines Stoffes nie vergessen macht, aber dennoch nicht zum trostlosen „Tearjerker“ herabsinkt, sondern auf die Chance eines Fortschritts in kleinen Schritten pocht. Auch wenn seine Ängste Evan Hansen weiterhin begleiten, bleibt es nicht aus, dass sein Blick auf die Welt an Zuversicht gewinnt.