Vorstellungen
Filmkritik
Eine der vielen guten Entscheidungen des Regisseurs İlker Çatak und seines Co-Drehbuchautors Johannes Duncker in ihrem Schuldrama „Das Lehrerzimmer“ besteht darin, dass die Hauptfigur, die junge Lehrerin Carla Nowak (Leonie Benesch), keine Deutschlehrerin ist. Ebenso wenig unterrichtet sie Religion oder Geschichte. Keines jener Fächer also, die sich aufdrängen, wenn ein Regisseur etwas über gesellschaftlichen Zusammenhalt erzählen will.
Die Fächer der Protagonistin sind vielmehr Mathematik und Sport. Disziplinen der Berechenbarkeit und Beweisführung einerseits, der Fairness, des Teamgeists und des Kräftemessens andererseits. Das sind beste Voraussetzung, um das personelle Zentrum der Geschichte – Nowak – mit den inhaltlichen – was ist die Wahrheit und können wir sie kennen – kollidieren zu lassen.
Auf diese Kernschmelze arbeitet jedes einzelne der von Judith Kaufmann im engen 4:3-Format gefilmten, labyrinthisch sich im Unruhigen bewegenden Bilder hin. Stets mit ältlichen Oberteilen in Brauntönen angetan, mit unauffälliger Steckfrisur und hellwachem, zugewandtem Blick wirkt die junge Pädagogin, je entschlossener sie durch die Räume eilt, wie fest eingefasst in einem Netz aus Türrahmen, Gängen und Fluchten.
Alle scheint möglich
Ihre Schützlinge der siebten Klasse hat die Neue mit pädagogisch ausgetüftelten Begrüßungs- und Lärmunterbrechungsritualen im Griff. Sie strahlt weder Angst noch Unsicherheit aus, nur freundliches Engagement. Eine weitere gute Entscheidung besteht darin, dass die Gestaltung der Schule keinerlei Anhaltspunkt liefert, um sofort kenntlich zu machen, worauf die dramaturgische Handlung hinauswill.
Alles scheint hier möglich, eine Fabel vom Gelingen genauso wie ein Amoklauf. Dieses Gymnasium mit seinen großzügigen und sauberen Räumlichkeiten ist keine Problemschule, aber auch keine abgeschottete Elitenfabrik, sondern etwas dazwischen: Bildungsstätte für Mittelschichtskinder, darunter ganz selbstverständlich auch solche mit Migrationshintergrund. Auch das Kollegium ist bunt gemischt; man pflegt eine gendergerechte Sprachkultur samt Glottisschlag, und es herrscht die von Nowak selbst einmal so vorgebrachte Prämisse, dass über etwas zu reden besser sei, als darüber zu schweigen.
Handeln aber ist gefragt, als sich Diebstähle an der Schule häufen. Und dieses Handeln erweist sich als immer schwieriger, je mehr geredet wird.
Denn ein Gesetz steht über allem, die „Null-Toleranz-Politik“, wie die Direktorin (Anne-Kathrin Gummich) nicht müde wird, zu betonen. Dieses Gesetz setzt in „Das Lehrerzimmer“ eine geradezu klassische Tragödie in Gang, indem gerade in seiner Erfüllung die Übertretung liegt, und im Vermeidenwollen das zu Vermeidende geschieht. Nowak will alles richtig machen, bekommt jedoch alsbald zu spüren, wie schnell das „Null-Toleranz“-Diktat zu Denunziantentum, Verdacht und Ausgrenzung führt, statt einen „sicheren Raum“ zu schaffen.
Aufs Glatteis geführt
Fast immer fixiert die Kamera Beneschs Gesicht. In kleinsten mimischen Verhärtungen lässt sich ablesen, dass es der Lehrerin immer schwerer fällt, dem eigenen moralischen Kompass zu folgen. Çatak führt das Publikum in diesem Gesellschaftslabor auf dasselbe Glatteis wie die Protagonistin. Schüchtern erhebt Nowak zunächst noch Einspruch, als sie mitansehen muss, wie ihr schwarzer Kollege mit dem provinziellen deutschen Namen Thomas Liebenwerda (Michael Klammer) offenbar aus einem rassistischen Vorurteil heraus den Falschen des Diebstahls verdächtigt, den türkischstämmigen Schüler Ali (Can Rodenbostel). Vorher schon hatte Liebenwerda die Klassensprecher zum „freiwilligen“ Verrat genötigt. Wer sollte da beim Zuschauen kein Verständnis dafür entwickeln, dass Nowak mittels Laptop-Kamera und Geldköder die Ermittlungsarbeit selbst in die Hand nimmt?
Zum eigentlichen Skandal aber wird genau diese Aktion von Nowak, die zunächst das Problem lösbar erscheinen lässt – schließlich hat Nowak einen Beweis. Aber ist es wirklich einer? Sie weiß es irgendwann selbst nicht mehr, doch da ist Eva Löbau als verdächtigte Sekretärin Kuhn schon zu solcher schauspielerischen Hochform aufgelaufen, dass sich das Blatt plötzlich wendet. Als ihr Sohn Oskar (Leonard Stettnisch), ein guter Schüler, fragt, warum seine Mutter nicht mehr zur Arbeit dürfe, bekommt er von Nowak und der Direktorin nur geschmeidige Antwortverweigerungen und wird in der Klasse fortan gemobbt.
Die Redaktion der Schülerzeitung hingegen weiß genau, welche Fragen gestellt werden müssen. Auch hier erlaubt sich der Film keine moralische Eindeutigkeit: Sind die Nachwuchsreporterinnen Glanzbeispiele für kritischen Journalismus, weil sie das „Wording“ über die Vorfälle als glatte Polit-PR-Sprache entlarven? Oder handeln sie unethisch, weil sie Nowaks Zitate aus dem Zusammenhang reißen?
Dass man vom Privatleben der Lehrerin und der anderen Figuren nichts erfährt, zählt ebenfalls zu den guten Ideen der Inszenierung. Das Tun und Unterlassen der Personen soll sich einzig aus dem System heraus erklären, in dem sie ihren Handlungsspielraum ausloten oder verlieren. Die streng komponierten und elegant fließenden Bilder des Films wissen, dass dieses System für Nowak in zwei Teile zerfallen ist: hier sie selbst, da die anderen. Nowaks sich verengender Raum gehört aber zugleich den anderen, die dazwischengrätschen, sie genau im Blick behalten, scheinbar helfen oder sie isolieren. Die Filmmusik von Marvin Miller spiegelt in konzertanten Streicherdissonanzen und monotonen, im soldatischen Marschtempo gezupften Akkorden diese beunruhigende Reibung von Mit- und Gegeneinander.
Der Preis des Perfekten
Bei aller Begeisterung, die der von Anfang bis Ende spannungsgeladene Film bei der Premiere auf der Berlinale mehrheitlich auslöste, wurde zu Recht angemerkt, dass nicht ganz klar sei, worauf „Das Lehrerzimmer“ eigentlich hinauswolle. Der Regisseur İlker Çatak sagt dazu, dass es gar nicht darum gehe, eine Aussage zu treffen, „sondern eine Frage zu stellen“. Würde eine Schulklasse ihm das so durchgehen lassen?
Doch es ist nur konsequent. Im Lehrerzimmer, aber auch im Klassenzimmer und beim Elternabend geht es ständig um die Frage nach einer zunehmend unmöglich erscheinenden Selbstpositionierung, um Be- und Verurteilungen, auf die es irgendwann keine Entgegnung mehr gibt. Lange versucht Carla Nowak dagegen anzugehen: Wenn die guten Schüler:innen nach der Klassenarbeit den Notenspiegel an die Tafel geschrieben sehen möchten, um zu wissen, „wo ich stehe“, lehnt sie das ab, um die schlechteren nicht zu beschämen.
Weil so gut und gerecht auf Dauer aber niemand sein kann in einem Gesellschaftsmodell, das den Verantwortlichen das Antworten verunmöglicht und damit alle „verwirrt“ (wie die Direktorin einmal feststellt), und weil es im Grunde komisch ist, wenn Absicht und Wirkung derart weit auseinanderfallen, schwingt in dem Film auch ein subtiler Humor mit. Letztlich erkennt die mehrdeutige Schlusspointe im Sitzenbleiben die letzte tragbare Verweigerungsoption in einer sich perfekt wähnenden Gesellschaft.