Filmplakat von Das Land der verlorenen Kinder

Das Land der verlorenen Kinder

95 min | Dokumentarfilm | FSK 16
Während Venezuela immer tiefer ins Chaos stürzt, sind Kinder besonders von der Not im Land betroffen. Millionen Minderjährige leben dort zurückgelassen oder als Waisen. Der Film erzählt von ihrer gewaltvollen Lebensrealität: er konfrontiert uns mit Kriminalität und Drogenmissbrauch, zeigt Kinder, die morden oder Neugeborene, die vor Hunger sterben. In Maracaibo kämpfen zwei Frauen auf unterschiedliche Weise gegen das Elend an: Während das Kinderheim von Carolina eine Oase inmitten von Gewalt und Entbehrungen ist, macht sich die alleinerziehende Kiara auf den beschwerlichen Weg nach Kolumbien, auf der Suche nach einem besseren Leben. Ein erschütternder Zustandsbericht über ein Land, das im Begriff ist, eine ganze Generation zu verlieren.
  • RegieJuan Camilo Cruz, Marc Wiese
  • Produktionsjahr2024
  • Dauer95 Minuten
  • GenreDokumentarfilm
  • AltersfreigabeFSK 16

Vorstellungen

City 46 Kommunalkino Bremen e.V.
City 46 Kommunalkino Bremen e.V.
Birkenstraße 1
28195 Bremen
Monopol Kino München
Monopol Kino München
Schleißheimer Straße 127
80797 München
Filmstudio Glückauf Essen
Filmstudio Glückauf Essen
Rüttenscheider Straße 2
45128 Essen
Cinema Münster
Cinema Münster
Warendorfer Straße 45
48145 Münster
Thalia Kino Augsburg
Obstmarkt 5
86152 Augsburg
sweetSixteen
Immermannstraße 29
44147 Dortmund
3001 Kino
Schanzenstraße 75
20357 Hamburg
Kino im Zeiss-Großplanetarium Berlin
Prenzlauer Allee 80
10405 Berlin

Filmkritik

Es beginnt im Dunkeln. Vor einer Betonbaracke entzünden Kiara und ihre Kinder mit Benzin gefüllte Dosen als behelfsmäßige Laternen. Später flackert das Licht zwischen den kahlen Wänden. Während Kiara ein karges Essen zubereitet, wedelt ihre kleine Tochter mit einem leeren Teller über dem schläfrigen Brüderchen, um die Moskitos zu verscheuchen. Dieses spärliche, unruhige Licht in der Nacht symbolisiert die scheue, flüchtige Hoffnung angesichts der erdrückenden Tristesse, von der Juan Camilo Cruz und Marc Wiese in „Das Land der verlorenen Kinder“ erzählen.

Venezuela, erläutern knappe Texteinblendungen, könnte angesichts der Fülle an Bodenschätzen ein reiches Land sein. Doch Korruption und Misswirtschaft haben es in den Ruin getrieben. Exemplarisch gezeigt wird das anhand des Barrio Santa Rosa in der venezolanischen Stadt Maracaibo. Das Armenviertel ist von Armut und der Gewalt rivalisierender Banden sowie einer korrupten Polizei geprägt. Kiara, die dort allein mit ihren vier Kindern lebt, ist mit 33 Jahren bereits zum siebten Mal schwanger. Sie hat schon viele Kinder an Unterernährung sterben sehen. Die Toten werden in Tüten begraben, weil niemand Geld für Särge habe. Auch ihre älteste Tochter ist gestorben; ein weiteres Kind hat sie bei einer Fehlgeburt verloren. Mit drei ihrer vier Kinder bricht sie schließlich nach Kolumbien auf, wo sie auf soziale Unterstützung hofft. Dass sie bereits nach zwei Wochen wieder zurückgeschickt wird, ahnt sie da noch nicht.

Wer sich wehrt, wird erschossen

Ihr ältestes Kind, den 14-jährigen Yorbenis, lässt sie allein zurück, obwohl sie Angst hat, dass er in eine tödliche Auseinandersetzung geraten könnte. Yorbenis ist Mitglied der berüchtigten Triberos-Gang und hat schon eine eigene Waffe. Vor laufender Kamera berichten Mitglieder der Bande von ihren Überfällen in der Stadt, wo sie den „Snobs“ die Brieftaschen und ihre teuren Uhren stehlen. „Wer sich wehrt, bekommt eine Kugel.“ Neulich, erzählt einer, habe er einen Mann mit einem kleinen Kind auf dem Arm ausgeraubt. Dabei habe er auf das Kind gezielt.

Die Triberos liefern sich mit den Chatarreros einen erbitterten Bandenkrieg. Yorbenis erzählt davon, dass er jüngst von den Chatarreros fast geschnappt worden sei. Wenn nicht eine Frau vorbeigekommen wäre, hätten sie ihn wahrscheinlich umgebracht. Auf die Frage, was die Chatarreros dazu bewege, so zu handeln, entgegnet Yorbenis matt: „Was sollen sie fühlen? Sie bringen sie um und fertig. Einer weniger.“ Nahezu reglos sitzt er da, den Blick stur auf den Boden gerichtet; nur mit den Beinen zappelt er unmerklich, und die Finger streichen nervös über die Basketball-Shorts: „Wir sind genauso. Wir bringen alle um, die wir kriegen, und fühlen nichts dabei. Wir bringen sie um, ohne nachzudenken. Ich fühle nichts.“ In den Pausen, die er zwischen den Sätzen lässt, hallen deprimierend düstere Klänge aus dem Off.

Während der Film meist professionell ausgeleuchtet ist, Tiefenschärfe gekonnt mit chiaroscurohaften Hell-Dunkel-Effekten kombiniert und die Kadrage des spanischen Kameramanns Alfredo de Juan passgenau sitzt, kommt das Leid in den Interviews und Off-Kommentaren umso schonungsloser zur Sprache. Fast macht sich ein Elendspathos breit. Eingestreute verwackelte Handyaufnahmen von blutigen Schießereien und brutalen Polizeirazzien liefern visuelle Schockeffekte. Einmal läuft die Kamera heimlich in einer heruntergekommenen Geburtsklinik, als zwei Frauen den Leichnam eines Babys abholen, das bei der Geburt gestorben ist. Hinterher wird gezeigt, wie die Frauen das tote Kind waschen, anziehen und in eine zu kleine Holzkiste legen, die als Sarg herhalten muss.

Tür an Tür mit den Tätern

„Das Land der verlorenen Kinder“ ist eine deutsche Produktion. Der Dokumentarist Marc Wiese stammt aus Dortmund, der in Kolumbien geborene Juan Camilo Cruz ist ein Filmproduzent aus Berlin. Der Film präsentiert nicht die Perspektive der Menschen in Santa Rosa. Vielmehr inszeniert er möglichst authentisch wirkende Einblicke von außen auf diese Menschen. Dabei scheint die Dokumentation so dicht an die Bewohner und Bewohnerinnen des Viertels sowie einige Gang-Mitglieder, darunter auch den Anführer der Triberos, heranzurücken, als seien die Filmemacher dort zuhause.

Diese intime Nähe, aus der sich die beklemmende, aufwühlende Kraft des Films speist, ist laut Presseheft Carolina Leal zu verdanken. Leal betreibt innerhalb des Barrio eine Stiftung für soziale Projekte. Unermüdlich versucht sie, den Ärmsten zu helfen: um Mädchen, denen sexuelle Gewalt angetan wird, in Sicherheit zu bringen, Kinder zur Schule zu schicken, medizinische Hilfe zu organisieren oder den Opfern von Polizeigewalt Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Sie ist eine der Frauen, die das tote Baby im Krankenhaus abholen. Sie ist es auch, die dem Filmteam die Türen ins Viertel öffnet. Ohne sie „hätten wir keinen Tag in dem Barrio gedreht“.

Der Film beobachte das Leben in Santa Rosa „im Cinema-Vérité-Stil“, heißt es in den Notizen. Das ist aber nur bedingt richtig. Zwar sind immer wieder auch Fragen der Filmcrew bei den Interviews zu hören, doch insgesamt bleibt das Team zumeist im Verborgenen. Es entsteht eher der Eindruck unmittelbaren Miterlebens. Die Kamera wird eher wie beim „Direct Cinema“ zur unsichtbaren Begleiterin. Die Entstehung des Films, sein Einfluss auf die Geschehnisse und die Mitwirkenden, die Interaktionen zwischen den Menschen vor und hinter der Kamera, die Grenzen der Wahrhaftigkeit, das alles tritt zugunsten einer bedrückend wirklichkeitsnahen Atmosphäre zurück.

Zu Fuß macht sich die schwangere Kiara mit ihren drei kleinen Kindern auf den beschwerlichen Weg zur kolumbianischen Grenze. Als sie nicht mehr weiterkann, hält sie einen Motorradfahrer an, der sie mitnimmt. Die Kamera folgt ihnen anschließend noch ein ganzes Stück. Zu sehen ist das nur deshalb, weil es gefilmt wurde. Vermutlich aus einem fahrenden Auto heraus. Das führt zur Frage, ob das Filmteam der Familie nicht geholfen hat. Hat es nur zugesehen, wie die vier draußen ungeschützt übernachten mussten, ohne Essen und ohne Trinken? Ab welchem Punkt hätten oder haben sie eingegriffen?

Im Spannungsfeld der Bilder

Solche Fragen werden im Film nicht thematisiert. Stattdessen sprechen Kiara und Carolina in die Kamera wie zu einer guten Freundin, die zu Besuch ist. Ihre Tochter, erklärt Kiara, dürfe nicht zur Schule, weil sie dann nicht mehr betteln könnte: „Die Mädchen heiraten, wenn sie elf oder zwölf sind.“ Sie selbst habe schon häufig gestohlen und sich prostituiert, um ihren Kindern etwas zum Essen zu geben. Dafür seien sie ihr aber nicht einmal dankbar. Im Gegenteil. Weil die Kinder mitbekommen hätten, was sie getan habe, würden sie sich jetzt auch nicht mehr an die Gesetze halten.

Carolina gesteht, dass sie ihre Tochter in ein Mädcheninternat gegeben hat, weil sie sonst von den Nachbarn oder ihren Cousins missbraucht worden wäre. Sie habe sich so sehr um die Kinder anderer gekümmert, dass sie ihre eigene Tochter vernachlässigt habe. Den Tätern müsse dennoch der Prozess gemacht werden. Carolina kämpft für eine gerechte Justiz. Offen bleibt, wie das mit dem zusammenpasst, dass sie einst selbst zur Anführerin mehrerer Banden aufstieg und „gemordet“ habe, weshalb sie heute von allen „respektiert und gefürchtet“ werde.

Gewisse Zweifel an der Glaubwürdigkeit von „Das Land der verlorenen Kinder“ im Spannungsfeld von unerbittlicher Wahrhaftigkeit und plakativer Inszenierung erscheinen deshalb durchaus angebracht. Vielleicht dienen die fragwürdigen Details beim überkritischen Betrachten aber auch nur als Ausflucht, um der abgebildeten Wirklichkeit zu entkommen. Denn die erscheint trotz aller Hilfsbemühungen so deprimierend perspektiv- und ausweglos, dass sie kaum zu ertragen ist.

Erschienen auf filmdienst.deDas Land der verlorenen KinderVon: Stefan Volk (18.6.2024)
Vorsicht Spoiler-Alarm!Diese Filmkritik könnte Hinweise auf wichtige Handlungselemente enthalten.
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