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Filmkritik
Es gibt eine Szene in „Das Ereignis“, die den Affront, um den es in dem Film eigentlich geht, auf den Punkt bringt. Eine junge Literaturstudentin lässt sich wegen Unterleibsschmerzen von ihrem Hausarzt untersuchen. Dass die beiden sich schon lange kennen, merkt man an seiner feinfühligen und an ihrer resoluten Art. Es ist ein Gespräch auf Augenhöhe; er fragt sie: „Sie haben noch nie mit jemandem geschlafen?“ Sie: „Noch nie.“ – „Wirklich nicht?“ – „Nein.“ – „Sie sind schwanger.“
Anne (Anamaria Vartolomei) lügt nicht aus Scham, sondern weil es nicht wahr sein darf. Der Arzt diagnostiziert die biologische Wahrheit auch nicht triumphierend, sondern bedauernd. Weil er weiß, was es für sie bedeutet, dass in diesem Augenblick ihr Glaube an die Macht der Sprache, Wirklichkeiten zu schaffen, vom körperlichen Faktum einfach pulverisiert wird. Daran erkennt man gelungene Filme über patriarchale Strukturen: dass Männer, die darin vorkommen, durchaus empathiefähige Wesen sein können. Weil nicht „die Männer“ das Problem sind, sondern die etablierten Gesetze und Normen.
Körper gegen Geist, Biologie gegen Intellekt
Normalerweise konstruieren Filme über ungewollte Schwangerschaften als Antagonisten die Frau und das ungeborene Kind. Das gilt zwar auch für die Verfilmung von Annie Ernaux’ autobiografischem Roman durch die französische Filmemacherin Audrey Diwan. Doch diese Gegnerschaft wird in „Das Ereignis“ in einen größeren Konflikt eingebunden: Körper gegen Geist, Biologie gegen Intellekt.
Eine Schwangerschaft bedeutet im Frankreich des Jahres 1963, in dem Abtreibungen streng bestraft werden, „die Krankheit, die nur Frauen trifft und sie in Hausfrauen verwandelt“, wie Anne sagt. Diese „Krankheit“ sieht sie jedes Mal, wenn sie am Wochenende in die Provinz zu ihren Eltern fährt. Ihre verhärmte Mutter (Sandrine Bonnaire) spricht auch ohne viel dialogisches Aufhebens Bände über das, was ihr Leben hätte werden können, wenn es nicht hauptsächlich aus körperlich auslaugender, schlecht bezahlter Arbeit bestehen würde, neben der sie auch noch ihr Kind großgezogen hat.
(K)ein Entweder-Oder
Irgendwann wolle sie ja ein Kind haben, sagt Anne einmal, „aber nicht statt eines Lebens“. Nicht der Mangel an vermeintlich naturgegebenem Mutterinstinkt, sondern die Festlegungen von Geschlechterrollen und sozialen Schichten erzwingen das Entweder-Oder, bei dem Anne ihr Leben (illegale Abtreibung) oder ihren Geist (Verzicht aufs Studium) aufs Spiel setzen soll. Als die erste aus ihrer Familie, die studiert, ist sie entschlossen, mit ihrer Begabung den prekären Verhältnissen zu entkommen, in die sie hineingeboren wurde. Sie weigert sich schlicht, diesen Weg nicht weitergehen zu dürfen.
Der Film, der 2021 in Venedig mit dem „Goldenen Löwen“ ausgezeichnet wurde, rückt zwar den Vorgang einer gegen alle Gesetze herbeigeführten Abtreibung in den Mittelpunkt, erzählt aber immer mit, was er eigentlich hätte erzählen können: den akademischen Weg einer begabten jungen Frau einfacher Herkunft. Dass die an sich sehr alltägliche Geschichte spannend wie ein Psychothriller wirkt, ohne in Effekthascherei zu verfallen, liegt außer am zurückgenommenen Spiel von Anamaria Vartolomei an der Entscheidung der Regisseurin für das konzentrierte Bildformat 1,37:1. Die Kamera von Laurent Tangy schmiegt sich dicht an Annes Schulter, folgt ihrem Rhythmus und ihrem Blick. Dadurch wird das Gezeigte selbst in drastischen Szenen nie voyeuristisch präsentiert.
Wie ein innerer Monolog
Diwan zieht nicht gerade subtil, aber dennoch nie ins Plakative kippend, ihre Zuschauerschaft auf allen künstlerischen Ebenen in Annes Erleben hinein. Anfangs noch in kühlen Blautönen, jedoch unter Vermeidung allzu niedlicher Sixties-Pastellhaftigkeit, nimmt ein glimmendes Rot allmählich überhand. Es ist dieselbe komplementäre Farbpalette wie in „Porträt einer jungen Frau in Flammen“. Der Film von Céline Sciamma stand in mehrfacher Weise Pate für „Das Ereignis“. Erstens, weil er seine eigene Historizität mit einem ähnlich hohen Maß an angeschmutzter Gegenwärtigkeit unterwandert, und zweitens, weil er die Arbeit einer „Engelmacherin“ nicht nur zeigt, sondern das Zeigen und Abbilden selbst zum Teil der Filmhandlung und zu einem Auftrag erhebt: Die Hauptfigur, eine Malerin, wird von ihrer Freundin aufgefordert, den Vorgang der Abtreibung abzuzeichnen. Ein Tabubruch, insbesondere durch den Entschluss, diesen Aspekt weiblichen Erlebens unter eine weibliche Federführung zu stellen und zugleich als einen von vielen Momenten zu entmythologisieren. Das Leben geht schließlich weiter, und nicht unbedingt schlechter.
Analog zur Sichtbarmachung des in vielen Abtreibungsdramen ausgelassenen Vorgangs vollzieht sich in „Das Ereignis“ eine Hörbarmachung des inneren Erlebens auf der Tonspur. Anne stößt auf Abwehr oder eisiges Schweigen, wo immer sie Rat sucht, sogar bei ihren sonst so aufgeschlossenen Mitbewohnerinnen. Hört man anfangs noch die quicklebendigen Quasselsounds der Studentenschaft, nehmen die wenigen, dissonanten Akkorde der Filmmusik von Evgueni und Sacha Galperine allmählich den Platz der Außenwelt ein, wie ein musikalischer innerer Monolog.
Etwas buchstäblich Unerhörtes
Das Ereignis wird zu etwas buchstäblich Unerhörtem, vor dem man nicht länger Augen und Ohren verschließen kann und dessen beklemmende Übermacht durch das erbarmungslose Voranschreiten der Zeit – die Wochenangaben werden als Zwischentitel eingeblendet – noch verstärkt wird.
Die akustischen Grässlichkeiten haben in „Das Ereignis“ dennoch nicht das letzte Wort. Denn auch das gibt es: die gelassene Schönheit jenes Geräuschs, das ein Stift macht, wenn er über Papier gleitet.