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Filmkritik
Cabrini-Green hat sich verändert: Das Sozialbauviertel, das als Vorzeigeprojekt begann und schließlich zum mahnenden Beispiel für die Folge des staatlichen Rückzugs aus prekären Vierteln wurde, ist heute gentrifiziert. In den ersten Bildern von „Candyman“ steht dieses neu bebaute und besiedelte Chicagoer Viertel Kopf. Stahl und Glas haben den Kontakt zur Erde verloren; ragen, verzerrt durch die Bodenperspektive, ohne Standbein in grauen Himmel. Die moderne und ganz auf die neuen Bewohner zugeschnittene Architektur ist nicht mehr mit der Vergangenheit des ehemaligen Sozialbauviertels verbunden – ein bizarrer, bedrohlicher Wandel für Wohlhabende hat sich vollzogen.
Anthony (Yahya Abdul-Mateen II) und Brianna (Teyonah Parris) sind zwei dieser neuen Bewohner. Sie sind schwarz, jung und – zumindest Brianna – wohlhabend genug, sich eine Wohnung in diesem gentrifizierten Teil der Stadt leisten zu können. Die urbanen Mythen des Viertels kennen beide nicht mehr. Als die Dinnergäste, Briannas Bruder Troy (Nathan Stewart-Jarrett) und sein neuer Freund, die Legende von Candyman erzählen, ist Anthony fasziniert. Die Geschichte vom reinkarnierten Sklaven Daniel Robitaille ist ein neuer Funke der Inspiration. Der Mann, der für seine Liebe zu einer weißen Frau gefoltert und ermordet wurde, um Jahrhunderte später ein Elendsviertel und all jene heimzusuchen (und grausam zu ermorden) die vor einem Spiegel stehend fünf Mal seinen Namen sagen…
Auf den Spuren des ersten Teils
Anthony begibt sich auf die Spuren des ersten Teils der Reihe, in dem die weiße Studentin Helen sich auf der Suche nach Candyman in die berüchtigten Sozialbauten von Cabrini-Green begibt. Tatsächlich ist die Grundstruktur erstmal in etwa die gleiche. Das Ghetto ist hier Studien- und dort Kunstprojekt. Was beide Herangehensweisen eint, ist der Versuch, die soziale Verwahrlosung nicht nur mit eigenen Augen zu sehen, sondern am eigenen Leib zu spüren. Ein Versuch, der scheitert. Die Suchenden finden in beiden Fällen nicht die verborgenen Abgründe des sozialen Elends, sondern ihre eigenen.
Nur ist Anthonys Perspektive auf das Elend einer kriminalisierten schwarzen Minderheit keine ethnische Außenperspektive mehr. Nia DaCostas Neuinterpretation des Stoffs, in Zusammenarbeit mit Co-Autor und Produzent Jordan Peele, kanalisiert die Unebenheiten des Originals, das einerseits Sozialabbau und Kriminalisierung als Elend ansprach, sich andererseits aber nie vom Topos des schwarzen Boogeyman lösen konnte, in eine Geschichte über schwarze Identität.
Die Verkörperung der Gewalt an Schwarzen
Candyman ist die Verkörperung der fortwährenden Gewalt an und nicht von Schwarzen. So kehrt der Fleisch gewordene Großstadtmythos nach knapp dreißig Jahren eben nicht nach Cabrini-Green zurück, um die schwarze Bevölkerung zu ermorden, sondern ihre überheblichen weißen Nachmieter: seien es weiße Teenagerinnen, die sich auf ein schwarzes Mädchen stürzen, die prätentiöse Kritikerin, die vorgibt, die Dynamiken von Segregation und Rassismus durchschaut zu haben, oder eben die Polizei, die weiterhin nicht davon ablassen kann, den schwarzen Mann am Tatort zu exekutieren, bevor sie Fragen zur Tat stellt.
Visuell steht „Candyman“ dem Vorgänger dabei in nichts nach. DaCosta und Kameramann John Guleserian lassen eine ganze Reihe von optischen Extravaganzen auf das oben genannte rassistische, ignorante oder überhebliche Amerika los. Neben monströser Architektur und Animationssequenzen mit Scherenschnitt-Silhouetten dient dem Film besonders das Spiegelbild immer wieder als metaphorischer Schlüssel. Nicht allein, weil es einen Spiegel braucht, um Candyman zu beschwören (eine Szene, in der fünf Teenagermädchen gleichzeitig fünf Mal „Candyman“ sagen, das wohl schönste Beispiel dafür, wie man den Topos einer Horror-Reihe mit viel Spaß ins Extrem führt). Sondern auch, weil das Spiegelbild die vom Film geradezu pedantisch gestellten Identitätsfragen visualisiert.
Der Künstler profitiert von der Metzelei
Inmitten der Metzelei ist Anthony als Künstler derjenige, der – zumindest kommerziell – profitiert. Nach der Vernissage, die den ersten Teil seines neuen Werks zeigt, finden die ersten Menschen ihren Tod durch Candyman – ein Skandal, aber eben auch fantastische Werbung. Repräsentiert Anthonys Werk noch die schwarze Geschichte, die es darzustellen versucht, oder schlachtet es diese nur noch für den Kunstmarkt aus? Die Frage im Zentrum des Films formuliert auch dessen Anspruch als Meta-Diskursbeitrag. Ein Anspruch, der bis in die kleinste Pore der Geschichte eindringt und den darunterliegenden Horrorfilm mitunter gefährlich weit aufbläht. Den Kontakt zum Boden hält „Candyman“ trotzdem.