Vorstellungen
Filmkritik
Die Sprache der Liebe giert nach dem Körper wie ein Kannibale. Sich nach jemandem verzehren oder jemanden verzehren ist ein fließender Übergang. Wir haben zum Fressen gerne und finden den anderen zum Anbeißen. Dieser Gedanke haucht dem romantischen Horror-Road-Movie „Bones and All“ von Luca Guadagnino sein Leben ein. Es ist ein Film über Menschenfresser, die lieben. Romantische Helden mit Knochen zwischen den Zähnen, extremere Vampire, konsequentere Zombies.
Sie sind jung, schön und frei. Das Kino hat stets auf der Seite der Jugend gestanden, einfach weil die Kamera sie verehrt. Über glatte Haut gleitet der Blick ohne Widerstand. Ja, Bonnie & Clyde töten; hier fressen sie ihre Opfer sogar noch auf, aber die Bilder geben ihnen trotzdem recht. Noch blutbefleckt, bleiben sie rein.
Tabus für das Leben im Tabu
Die Entsprechung von Bonnie ist in diesem Fall Maren Yearly (Taylor Russell). Sie zieht mit ihrem Vater durch die USA, von Staat zu Staat, was weniger ein Leben ist als eine ständige Flucht. Nachts sperrt er sie ein. In der Einstiegssequenz des Films, der auf dem gleichnamigen Roman von Camille DeAngelis basiert, sieht man auch, warum. Eine Übernachtungsparty mit Klassenkameradinnen endet blutig. Diesmal ist es dem Vater endgültig zu viel; er lässt Maren mit ein paar Dollars und ihrer Geburtsurkunde allein. Sie zieht los, um die weißen Flecken auf der Landkarte ihrer Vergangenheit zu füllen. Auf der Reise trifft sie ihren Clyde in einem Supermarkt: Lee (Timothée Chalamet) ist ein Hybrid aus Redneck, James Dean und Vogue-Modell, als hätten sich alte und neue Jugendkultur einen Avatar erschaffen.
Doch Lee ist nicht der erste „Esser“, den Maren kennenlernt. Ihre offizielle Initiation in diese Welt erfährt sie durch den schrulligen Sully (Mark Rylance). Als Mischung aus Vaterfigur, Lehrmeister und unwägbare Bedrohung erklärt er ihr die ungeschriebenen Regeln des Menschenfresser-Daseins. Sie können einander riechen, oft über weite Entfernungen. Vor allem aber essen sie nie einander, sondern nur gewöhnliche Sterbliche. Selbst das Leben im Tabu braucht eigene Tabus.
Wie die meisten anderen Kannibalen, die in „Bones and All“ auftreten, ist Sully vor allem ein Gegenmodell zu Lee und Maren. Sein Leben ist eine Warnung, dass das Dasein als Kannibale der Seele schadet. Natürlich fragen sich die jungen Menschenfresser, was die Zeit aus ihnen machen wird. Erwachsenwerden bedeutet eben auch, sich zu dem Leid zu verhalten, das man zwangsläufig verursacht.
Die Frage nach Schuld bleibt außen vor
Den metaphorischen Raum von Vampiren und Zombies hat die Popkultur über die Jahre hinweg stark ausgeleuchtet. Nicht erst mit „Twilight“ oder „Warm Bodies“ sind diese Wesen zum Objekt der Begierde geworden. Der Kannibale hingegen, der aufnimmt, ohne ein „Wir“ zu schaffen, und der nicht Verwandlung, sondern Zerstörung anstrebt, war immer eine randständige Figur. Mit ihm assoziiert man große Skandale und die Transgression des Genre-Kinos. Guadagnino wäre gerne transgressiv; man denke nur an das blutige Ende seines „Suspiria“-Remakes. Doch seine Stärken als Regisseur liegen anderswo.
So bleibt die Gier der „Esser“ merkwürdig unspezifisch. Sie nicht zu füttern, bedeutet keinesfalls das Ende wie bei den Vampiren, sondern vor allem den Wahnsinn. Ob man essen kann, ohne zu töten? Diese Frage stellt sich in „Bones and All“ nie. Es fühlt sich wie ein Versäumnis an, dass Guadagnino kaum nach Schuld fragt, sondern immer wegschaut, wo es wirklich wehtut.
Es gibt mehr Blut und Gedärme zu sehen als wirklichen Schmerz. Die Metapher wird etwas nonchalant Metapher sein gelassen, ohne dass für die Figuren daraus je ein Zweifel erwachsen würde. Sie ist einfach ein Marker der Andersartigkeit, ein Emblem des Außenseitertums, ein halbgarer Verweis Richtung Queerness, Sucht oder psychische Störung.
Der Film zieht auch eine vage Parallele zwischen Armut und Kannibalismus. Menschen ohne Alternativen, die einander wieder Fressfeind werden. Auch gibt es eine leichte Überzeichnung des Redneck-Archetyps, was schon immer eine Projektion des urbanen Amerikas auf die Peripherie war. „Backwoods Horror“ heißt das entsprechende Sub-Genre.
Ein sanfter, gleitender Fluss
„Bones and All“ ist ein wehmütiger Blick auf zwei Nationen, zu denen der 51-jährige italienische Regisseur nicht (mehr) gehört: die USA und die Jugend. Aus Sicht von Europa ist die USA der ewig junge Kontinent, der die Welt verschlingt, indem er sich von ihr verschlingen lässt. Und Jugend ist ein romantischer Wahn, dem man entronnen ist. Romantik heißt hier, alles als Versprechen zu erleben, insbesondere die endlosen Landschaften. Das Road Movie ist deshalb ein romantisches Genre, genauso wie es der Western oft war. So gesehen ist „Bones and All“ Guadagninos Version von Wim Wenders „Paris, Texas“.
Die leichte, gleitende Stimmung des Films zeigt wieder einmal, dass der Urlaub der Grundmodus des Kinos von Luca Guadagnino ist. Es fließt sanft und ohne Verpflichtungen dahin. Jede Folge seiner Serie „We Are Who We Are“ trägt den Titel „Im Hier und Jetzt“. Der Regisseur ist ein nostalgischer Hedonist. Sein Kino ist das der Genüsse, der ungelenken, schönen Tänze, alles ephemer, „Im Hier und Jetzt“ eben. Er ist eine Art Arthouse-Werbefilmer, grenzen- und widerstandslos empfänglich für die Schönheit der Welt. Mit „The Staggering Girl“ hat er tatsächlich Werbung fürs Modehaus Valentino gemacht. Selbst Trauer und Leid wohnt eine große Anmut inne. In „Call Me by Your Name“ ziehen Tränen unendlich elegant über wohlgeformte Wangenknochen, und die Musik von Sufjan Stevens veredelt dies zur Reklame für die vergängliche Liebe. Immer wieder lässt der Regisseur seine Helden tanzen. In „Suspiria“ todbringend, Ralph Fiennes mit gelassener Ironie, Armie Hammer so, als wären der Sehnsucht Füße gewachsen. Jetzt tanzt Timothée Chalamet zur Musik von „Kiss“. Im Kopf hört man die Regieanweisung: Sei ein Traum von Jugend.
Aber am Ende bleibt ein Gefühl von Leere. Wieder einmal ist die Liebe verloren, und die Bilder sammeln die Objekte auf, zwischen denen sie sich abgespielt hat. Melancholie ist für Guadagnino lediglich Teil von Coolness. Alles wird zum Oberflächenphänomen. Obwohl manche Figuren mit Haut und Haaren verschlungen werden, mit „Bones and All“, kommt das Publikum mit einem Kratzer davon.